In ihrem jüngsten Essay im ZEIT-Magazin (11/2015) diskutiert Julia Friedrich die Ungerechtigkeit von Erbschaften. Erbschaften erhöhten, so Friedrich, die soziale Ungleichheit, unterminierten Chancengleichheit und seien gleichzeitig eine schwere Bürde für die Erben, die mit dem unverdienten Geld nicht umgehen könnten, faul und dekadent werden würden. Jens Jessen dekonstruiert Friedrichs Essay in DIE ZEIT (vom 19.3., S. 26) und schlussfolgert aus seinen Überlegungen, dass Erbschaften ganz im Gegenteil die Gesellschaft sogar humaner machten. Beide haben unrecht.
Warum findet Julia Friedrich Erbschaften so himmelschreiend ungerecht? Weil diese nicht auf eigener Leistung und ehrlicher Arbeit beruhten und somit unverdient seien. Friedrich reproduziert damit in ihrem Essay die moderne Erzählung von Leistungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und ehrlicher Arbeit. Dies geschieht durch eine Vielzahl von Zitaten von nicht-Erben (aber auch Erben!), die allesamt der Meinung sind, dass jeder und jede sich den eigenen Wohlstand legitimerweise nur durch anständige, harte Arbeit verdienen dürfe. John Locke und Thomas Hobbes waren wohl die ersten, die viel intellektuelle Energie darauf verwendeten, Eigentum aus der Arbeit heraus zu begründen: Ausschließlich menschliche Arbeit soll seitdem Eigentum schaffen und Werte begründen. Eine Auffassung, die (dort noch theologisch begründet) von klassischen Ökonomen wie Adam Smith aber auch von Karl Marx übernommen, zur Grundlage der Nationalökonomik wurde und bis heute ihre normative Wirkung entfaltet. Moderne meritokratische Vorstellungen verbinden diese Vorstellung von wertschaffender und fair entlohnter Arbeit mit der Idee von Chancengleichheit. Demnach treten im Bildungssystem Individuuen unter möglichst gleichen Startbedingungen in den Wettstreit um die besten Schulnoten und Abschlusszeugnisse. Die Gewinner in diesem schulischen und universitären Wettstreit erhalten später die attraktivsten und am besten bezahlten Arbeitsplätze. Denn, so eine Grundannahme der Humankapitaltheorie: Bildungsabschlüsse sind ein Indikator für Produktivität, und die Arbeitskraft wird an Hand ihrer Produktivität entlohnt.
Julia Friedrichs Essay ist ganz im Geist dieser meritokratischen Vorstellungen geschrieben. So glaubte sie einst daran, „dass Talent und Fleiß uns ein gutes Leben verschaffen würden“, dass jeder die gleichen Chancen habe — bis sie dann feststellt, dass Erbschaften diesem Prinzip diametral entgegen laufen. Dabei braucht es der Erbschaftsproblematik überhaupt nicht, um die (inzwischen vielfach dekonstruierte) meritokratische Logik als falsch und ideologisch zu entlarven. Weder ist die Schule in der Lage, Chancengleichheit „herzustellen“, noch würde das komplette Abschaffen der Erbschaften uns diesem Ziel näher bringen — das verdeutlichen nicht nur die Untersuchungen Pierre Bourdieus, die zeigen, dass in den Familien neben ökonomischem auch soziales und kulturelles Kapital vererbt wird. Chancengleichheit ließe sich höchstens durch die Abschaffung der Familie herstellen — was kaum jemand ernsthaft fordern wird. Statt dessen ist soziale Ungleichheit ein Funktionserfordernis moderner, kapitalistischer Gesellschaften. Allerdings sollen ungleiche Statuspositionen heute eben nicht mehr nach Herkunft oder anderen „askriptiven“ Merkmalen wie Gender, Ethnizität etc. verteilt werden, sondern ausschließlich nach Leistung. Der „meritokratischen Leitfigur“ (Heike Solga) kommt dabei eine ganz wesentliche gesellschaftsstabilisierende Funktion zu. So lange die Menschen glauben, dass alle die gleichen Chancen haben und Bildung als Produktivität auf dem Arbeitsmarkt honoriert wird, so lange ist selbst schuld, wer es nicht geschafft hat. Er oder sie hat sich eben nicht genug angestrengt.
Das ist im wesentlichen die (gelungene) Kritik von Jens Jessen. Er zeigt auf, dass es doch reichlich naiv ist von einer meritokratischen Gesellschaft auszugehen oder diese verwirklichen zu wollen. Statt dessen, so Jessen, führe der Glaube an Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit in die Ellbogengesellschaft, da alle nur noch härter und rücksichtsloser um ihre Vorteile kämpfen würden. Würde Jessen Marx noch einen Schritt weiter folgen als er es implizit bereits getan hat, so würde er auch feststellen, dass der von Friedrich reproduzierte Glaube an eine meritokratische Gesellschaft glatt das Gegenteil des erwünschten bewirken kann: Meritokratische Vorstellen legitimieren soziale und ökonomische Ungleichheiten und dienen als Ideologie und „falsches Bewusstsein“ dazu, die Stellung der herrschenden Eliten zu stabilisieren. Wenn Erfolg auf Leistung basiert, dann haben die Mächtigen und Reichen eben mehr geleistet als die Armen und Arbeitslosen. Julia Friedrich kommt argumentativ nicht darüber hinaus, Erbschaften als Dysfunktionalität des kapitalistischen Systems darzustellen die es zu beseitigen gilt. Implizit liegt dem die irrige Annahme zu Grunde, dass die berühmte unsichtbare Hand des Marktes schon zu gerechten Ergebnissen führen werde, wenn marktverzerrende Faktoren wie Erbschaften eliminiert würden. Das Gegenteil ist der Fall. Friedrich übersieht vollkommen, dass es eben der Kapitalismus ist, der die nun zu vererbenden extrem ungleichen Vermögen erst produziert hat.
Jens Jessens Schlussfolgerungen muten dann allerdings ebenso unkritisch und an und sind ebenso geeignet, krasse soziale Ungleichheiten zu legitimieren. Erbschaften sieht er positiv: sie führten der Gesellschaft immer wieder vor Augen, dass ökonomischer Erfolg auf Zufalle beruhe und eben nicht auf Leistung und harter Arbeit. Das wiederum wirke dem unbarmherzigen Konkurrenzkampf entgegen und mache die Gesellschaft „humaner“. Damit übergeht er zum einen das nicht unwichtige Argument Friedrichs, dass Erbschaften außerhalb der Öffentlichkeit verlaufen und ökonomische Ungleichheiten damit gerade nicht-sichtbar verstärken. Zum anderen ließen sich mit diesem Argument auch alle anderen Determinanten ökonomischer Ungleichheit verteidigen, die dem Leistungsprinzip zuwider laufen: Sollen Frauen doch weniger verdienen, Migranten ausgebeutet und dicke Menschen diskriminiert werden. Dann sieht wenigstens jeder, dass es in dieser Gesellschaft nicht um Leistung geht. Und dann? Während also Friedrich im 20. Jahrhundert und einer überkommenen Vorstellung von Leistungsgerechtigkeit verbleibt, geht Jessen in seinem Denken sogar noch einige Jahrhunderte weiter zurück. In dem er die „Zufälligkeit von Reichtum und Erfolg“ als gegeben ansieht und im Wesentlichen der gesellschaftlichen Veränderbarkeit entzieht, naturalisiert er soziale Ungleichheit als quasi „gottgegeben“.
Dass Julia Friedrich in ihrer Erbschafts-Kritik mit der äußerst ungeeigneten Kategorie der Leistungsgerechtigkeit hantiert, darf kein Argument sein, wie Jens Jessen in einen strukturellen Konservatismus zu verfallen und ökonomische Ungleichheit als nun einmal unveränderbar darzustellen. Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit sind letztlich normative Kategorien, die bestehende Ungleichheiten ebenso zementieren und sozialen Wandel behindern, wie das konservative Denken Jessens, der bestehende Ungleichheitsstrukturen nostalgisch als noch nicht der „Herrschaft des Geldes“ unterworfen verklärt. Den weltweit steigenden Ungleichheiten und ihren katastrophalen Auswirkungen hat er argumentativ nichts entgegen zu setzen. Aber genau diese gilt es zu thematisieren, ob sie nun auf Erbschaften beruhen, oder nicht.