Arbeit – ein modernes Heilsversprechen

Der folgende Text ist in der Pilot-Ausgabe des transform-Magazins erschienen, das ich euch hiermit sehr ans Herz legen möchte! Vorbestellungen sind noch möglich.

„Vermögensberatung ist für mich Berufung und Leidenschaft zugleich. Ich helfe den Menschen in Deutschland, ihre finanziellen Ziele zu verwirklichen und fürs Alter vorzusorgen. Damit nehme ich sowohl gesellschaftliche als auch soziale Verantwortung wahr. Das ist es, was mich antreibt. Und Sie?“

Schöner, als in diesem Statement des Vermögensberaters André Knies in einer Werbeanzeige der Deutschen Vermögensberatung (die mit der kostenlosen BILD-Zeitung zum 9. November 41 Millionen mal verteilt wurde), lässt sich die moderne Erzählung von Arbeit nicht auf den Punkt bringen. Danach hat Arbeit eine individuell und eine kollektiv positive Seite, und beide ergänzen sich im Idealfall perfekt. Für André Knies ist Arbeit individuelle Selbstverwirklichung pur: Berufung und Leidenschaft. Und diese Erfüllung in seiner Arbeit speist sich eben auch aus dem Wissen, mit der Arbeit einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Er ist überzeugt, gesellschaftliche und soziale Verantwortung wahrzunehmen.

Tatsächlich kann diese Geschichte als Meistererzählung verstanden werden, die heute über alle politischen Lager hinweg geglaubt wird. Continue reading

Quantitative Sozialforschung und soziale Kontrolle

Als Wolfgang Streeck 1966 begann Soziologie zu studieren, sah er — wie seither unzählige Studierende — sein Fach als mehr oder weniger wissenschaftliche Anleitung zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse (Streeck 2015).1 Die Idee ist einfach: wenn wir die Ursachen von gesellschaftlich unerwünschten Zuständen kennen, so lassen sich diese politisch verändern und die Gesellschaft so „verbessern“. Erkenntnistheoretisch ist es selbstverständlich naiv, die Gesellschaft als passiven Gegenstand zu betrachten, der in Kausalmodellen beschrieben und durch das Anziehen der richtigen Stellschrauben in die gewünschte Richtung bewegt werden kann. Die Soziologie weiß das nur allzu gut, hat sich diese Disziplin doch so intensiv wie keine andere mit der Steuerungsfähigkeit von Gesellschaften auseinander gesetzt. Leider scheint dieses Wissen heute zunehmend verschüttet zu gehen. Ich vermute, dass dies mit der Zunahme von hochspezialisierten Disziplinen zusammenhängt, die aus den Naturwissenschaften kommen, von einem positivistischen Wissenschaftsverständnis ausgehend mit scheinbar „exakten“ mathematischen Modellen arbeiten und dabei auf die Veränderung der Gesellschaft zielen. Schon alt ist dabei die Anwendung neoklassisch-ökonomischer Modelle auf soziale Probleme, wie es in der Bildungs-, Umwelt- und Familienökonomik gang und gebe ist. Vor dem Hintergrund des Klimawandels kommen dazu neuerdings Umwelt- und Klimawissenschaften, die sich aus den Naturwissenschaften heraus entwickelt haben, sich häufig als eine Art Ingenieurswissenschaft gebären und hoffen, die drohende Umweltkatastrophe durch geeignete (Sozial-)Technologien und umweltgerechte Verhaltenssteuerung abwenden zu können.

Ich will dieses Problem hier am Beispiel eines populären Teilgebiets meiner eigenen Disziplin — der Soziologie — diskutieren: der modernen quantitativ-empirischen Sozialforschung, die bevorzugt mediale und politische Aufmerksamkeit bekommt. Continue reading

PISA-Studien: was die Welt lernen soll.

“Die gerade erschienene Pisa-Studie verbreitetet einen Hauch von Vorweihnachtsfreude in den Stuben der deutschen Kultusminister: Deutschland hat in allen drei Disziplinen überdurchschnittlich abgeschnitten”, kommentiert Anna Lehmann in der taz nach Bekanntgabe der neuen PISA-Ergebnisse. Sie stimmt damit ein in die Standard-Interpretation der nach-PISA-Entwicklung (in der optimistischen Variante): Die PISA-Studie habe auf ein wichtiges Problem aufmerksam gemacht, es wurde einiges getan, offensichtlich mit Erfolg, aber es bleibe noch viel zu tun.

Zwei Fragen werden in der zyklischen Berichterstattung zu PISA leider zu selten gestellt:

  1. Worin sind die deutschen Schüler besser geworden?
  2. Warum sind sie das?

Beginnen wir mit einer Diskussion der 2. Frage, die die Wochenzeitung Die Zeit auch dem PISA-Koordinator Andreas Schleicher gestellt hat: „Wie lässt sich der deutsche Erfolg erklären?“ Schleicher:

Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Erst einmal hat man Pisa für Veränderungen genutzt. Man hat mit den nationalen Bildungsstandards gemeinsame Ziele definiert und die Schulen darauf verpflichtet. Die Diagnostik ist besser geworden, das heißt man weiß heute genauer, welche Schüler Probleme beim Lernen haben. Zudem hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich hohe Leistungen und Chancengerechtigkeit nicht ausschließen. Man gibt also schwache oder schwierige Schüler nicht mehr so leicht auf wie früher.

Ist es nicht erstaunlich, wie schwammig Andreas Schleicher – der sonst nicht müde wird “best practice” Beispiele aus erfolgreichen Ländern zu propagieren – hier antwortet? Continue reading