Wer wissen will, wie unser Wirtschaftssystem und gesellschaftlicher Fortschritt funktioniert (oder besser: der vorherrschenden Ideologie entsprechend funktionieren sollte), der muss nicht in Ökonomie-Lehrbücher schauen. Manchmal reicht es, ein beliebiges naturwissenschaftliches Sachbuch zur Hand zu nehmen. Beispielsweise das Buch „Phänomen Honigbiene“ des Würzburger Bienenforschers Prof. Jürgen Tautz. Ob Herrn Prof. Tautz bewusst ist, welche Geschichten er in seinem Bienen-Buch reproduziert? Egal, die Lektüre ist für den ideologiekritisch geschulten Blick jedenfalls die reinste Freude. Ich will sie euch nicht vorenthalten.
(alle folgenden Zitate stammen aus Kapitel 3: „Die Honigbiene — ein Erfolgsmodell“, Seitenzahlen in Klammern)
Es gab einmal eine — offensichtlich höchst rückschrittliche — Zeit, in der sich die Blumen nicht anders zu helfen wussten, als sich über den Wind bestäuben zu lassen. Ein „eher unökonomisches Unterfangen“ (55). Doch dann kam, wie es historisch fast immer ist, der „Fortschritt“, der zu verzeichnen war als die Insekten begannen, die Blüten zu bestäuben (55) und der noch weiter ging, als die Bienen diese Aufgabe monopolisierten (57). Denn „kein anderer Bestäuber ist so wirkungsvoll wie die Honigbiene“ (57), die ihre Kräfte „optimal im Feld verteilt“ (65). Wie kam es zu diesem Fortschritt?
Versuchen wir die Fortschrittserzählung anhand der Ausführungen von Prof. Tautz zu rekonstruieren. Als die Blumen merkten, dass sie sich effizienter durch Insekten als durch den Wind bestäuben lassen konnten, herrschte zunächst eine wilde Konkurrenzsituation auf dem Markt vor (56). „Das Bestäubungssystem der Blütenpflanzen hat eine Abhängigkeit zwischen Insekten und Blütenpflanzen hervorgebracht, bei der die Insekten wie auf einem Jahrmarkt zwischen den unterschiedlichen Anbietern wählen können und in der die Pflanzen um ihre Kunden, die blütenbesuchenden Insekten, konkurrieren. Dabei unterscheiden sich die Pflanzen als Anbieter in der Qualität und der Menge an Nektar, der den Besuchern angeboten wird, und auch die Polleninhaltsstoffe variieren von Pflanze zu Pflanze.“ (56)
Solche harten Konkurrenzsituationen führen bekanntlich dazu, dass die Marktteilnehmer (Anbieter wie Nachfrager) gezwungen sind, ihre Produktion zu optimieren und effizienter zu gestalten. Das traf zum einen auf die Pflanzen zu. „Die Notwendigkeit, den Bienen besonders Auffälliges zu bieten, steigt mit der Menge der direkten Konkurrenten.“ (56) Dennoch können die Pflanzen den Insekten kein Schlaraffenland bieten, da auch diese mit den Restriktionen knapper Ressourcen zu kämpfen haben. „Nektarproduktion als Bienenlockstrategie kostet die Pflanzen einen Preis in Form der Rohstoffe und der Energie […]. Wenn man aus Sicht der Blüten eine Kosten-Nutzen-Betrachtung anstellen würde, ist für die Blüten eine durch sparsamen Nektarausstoß erschlichene hohe Besuchsfrequenz günstig: viele Anflüge durch die Bienen und somit Sicherung einer erfolgreichen Bestäubung bei geringstmöglicher Nektarabgabe. Allerdings darf die Blüte ihre Nektarsparsamkeit nicht auf die Spitze treiben, da sonst die Kundschaft ausbleibt und sich lieber einem freigiebigeren Blütenkonkurrent zuwendet.“ (63/63) Die Blumen handeln hier also nach dem Minimalprinzip: minimaler Einsatz an Ressourcen (Nektar), aber dennoch so viel, dass die Insekten nicht zur Konkurrenz abwandern.
Während sich die Blumen untereinander in Konkurrenz befinden, sind auch die Bienen in Konkurrenz mit den anderen Anbietern von Bestäubungsleistungen (Insekten). Wie konnte es nun dazu kommen, dass die Biene so erfolgreich ist? Zum einen ist natürlich die Leistungsbereitschaft der Bienen, also ihr Fleiß zu nennen. „Und in der Tat kann eine Kolonie Honigbienen mit ihrem Fleiß jeden Konkurrenten das Fürchten lehren“. (57) Zum anderen agiert das Bienenvolk wie ein modernes, betriebswirtschaftlich organisiertes Unternehmen. Es stellt sich der Marktkonkurrenz erfolgreich, indem es intern höchst effizient und mit flachen Entscheidungsstrukturen organisiert ist. Dabei optimieren die Bienen den Verbrauch knapper Ressourcen indem sie zwischen zwei und vier Kilometern weit fliegen. „Das ist eine unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gerade noch tragbare Distanz, wenn man die Relation zwischen dem Energieaufwand für den Flug in Form von Honigtreibstoff und der Energieausbeute in Form der heimgebrachten Nektarmenge betrachtet.“ (63) Die Sammelkräfte werden dabei „optimal im Feld verteilt.“ (65) „Der Superorganismus wirft sein Beutenetz über mehrere hundert Quadratkilometer aus und zieht die Maschen dort eng, wo es sich lohnt, und lässt sie locker, wo der Kolonie nicht viel entgeht.“ (66) Gelingen kann ihr das über die angemerkten flachen Hierarchien, „in einem dezentralen, selbstorganisierenden Verteilungsmechanismus.“ (65/66)
Die Konkurrenzsituation unter den Insekten hat also zu verschiedenen Optimierungsstrategien geführt, wobei die Bienen eindeutig die Gewinner waren. So kam es zur entsprechenden Marktkonzentration. Die Bienen sind derart erfolgreich, „dass sie ähnlich angelegten Konkurrenten für eine Koexistenz keinen Raum lassen.“ (57) Damit deutet Prof. Tautz zugleich an, dass der Erfolg der Bienen auch zu einem Problem werden kann, nämlich dann, wenn es zur Monopolisierung führt. „Das ist Globalisierung und Monopolbildung im Tierreich“. (57)
Nichtsdestotrotz, die Konkurrenz hat zu besagtem Fortschritt geführt. Erinnern wir uns dazu an die bekannte „invisible hand“ Metapher von Adam Smith, die meist so interpretiert wird, dass dem Gemeinwohl dann am besten gedient ist, wenn alle eigeninteressiert handeln. Im Falle der Blüten und Bienen ging die Eigeninteressiertheit sogar so weit, dass sie „auf gegenseitiger Ausbeutung beruht[e].“ (66) Genau dies aber führte zu einer gesellschaftlich optimalen Lösung, zum viel beschworenen ökonomischen Gleichgewicht, an das die Neoklassik heute noch glaubt. „Im Falle der Blütenpflanzen-Honigbienen-Beziehung hat diese gegenseitige Ausbeutung eine Positivspirale in Gang gesetzt, an deren Ende eine wunderbare Partnerschaft steht.“ (66) Der Marktmechanismus hat funktioniert. Heute bleiben „kaum Blütenservicelücken“. (66)
Kurz: Gesellschaftlicher Fortschritt durch eigeninteressiertes Handeln und die „unsichtbare Hand des Marktes“ — so funktioniert in der Neoklassik unsere Gesellschaft, und bei Jürgen Tautz auch die Evolution und die Welt der Bienen und Blumen. Wobei sich Fleiß, gegenseitiges Ausbeuten und effiziente Organisation durchsetzen. Irgendwie schade. Ich hatte mir die Natur immer etwas romantischer vorgestellt. Nach der Lektüre weiß ich nun, dass auch sie bloß den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus folgt.
Literatur
Jürgen Tautz (2007). Phänomen Honigbiene. Mit Fotografien von Helga R. Heilmann. Heidelberg: Spektrum