“evidenzbasiert”

Die Nachfrage nach evidenzbasierter Forschung

In einer Gesellschaft, die als immer unsicherer, “kontingenter” beschrieben, mit Diagnosen wie “Risikogesellschaft” (Ulrich Beck) belegt wird und in der Gott als letztbegründende Instanz verschwunden ist (Günter Dux), hat die Wissenschaft die Aufgabe übernommen, sichere Antworten zu geben. Mein Vater (Realschullehrer) erwartet von der Bildungsforschung, dass sie ihm endlich sagt, welche Unterrichtsmethode die für seine Schüler geeignete ist und eine Freundin (Psychologin) erhofft sich, dass die evidenzbasierte Psychologie ihr sagt, welche Therapie für welchen Patienten die geeignete ist. Diese Wünsche sind höchst nachvollziehbar.

In der Moderne verlässt sich der Mensch nicht mehr auf seine Intuition oder restriktive Normen (Rohrstock in der Schule und Elektroschock in der Psychatrie) sondern auf die Wissenschaft. “Evidenzbasiert” ist ein gesellschaftswissenschaftlicher Modebegriff. Die “evidenzbasierte” arbeitende Sozialwissenschaft hat sich auf die Fahnen geschrieben, genau dieses gesicherte Wissen liefern zu können. Kein Wunder, dass die Nachfrage immens ist.

Die Bedeutung des Begriffes

Was bedeutet aber nun der Begriff? Ursprünglich stammt er aus der Medizin und lässt sich mit “auf empirischen Nachweisen beruhend” übersetzen. Von der Wortbedeutung her ist der Begriff damit erstmal ziemlich gehaltsleer: werden Gesellschaftswissenschaften wie Soziologie oder Wirtschaftswissenschaft als empirisch arbeitende Wissenschaften aufgefasst (was ziemlicher Konsens ist), so ist selbstverständlich, dass ihre Aussagen empirisch überprüft und damit “evidenzbasiert” sein sollten.

Praktisch wird der Begriff fast immer enger gefasst: er verkürzt dann Empirie auf “quantitativ gemessen” und verkürzt empirisch gesichert auf “statistisch signifikanter Zusammenhang”. Die quantitativ arbeitenden Sozialwissenschaften verwendet inferenzstatistische Methoden um zu verallgemeinerbaren Aussagen zu kommen: Wenn keine Annahmen verletzt werden (was in der Realität eigentlich nie zutrifft), dann lässt sich von der Stichprobe mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf die Grundgesamtheit schließen. Ein signifikanter Zusammenhang zwischen körperlicher Attraktivität und Schulnoten (so neuerdings bei Dunkake et. al. 2012) wird dann so interpretiert, dass dieser Zusammenhang nicht nur bei den 1000 untersuchten Schülern zu finden ist, sondern sich auf die Grundgesamtheit (also z.B. alle deutschen Schüler) übertragen lässt.

Auf eine solche Wortbedeutung beziehe ich mich im Folgenden. Evidenzbasierte Bildungsforschung ist dann solche, die Schülerleistungen quantitativ gemessen hat (das ist vor allem die PISA-Studie, zur Kritik vgl. diesen Eintrag). Qualitative, historische und theoretische Bildungsforschung wird meines Wissens nie als “evidenzbasiert” bezeichnet. Evidenzbasierte Medizin und Psychologie ist solche, die die Wirkung von Arzneimitteln bzw. Therapien mit Hilfe randomisiert kontrollierter Studien nachweist.

Eine weitere Abgrenzung zu “evidenzbasiert”, so hört man vor allem in den Medien oft, ist “ideologisch”. Während früher die Entscheidung für eine Intervention auf Grundlage ideologischer Überzeugungen getroffen wurden, verlässt sich der Mensch heute auf wissenschaftliche Nachweise der Wirksamkeit. Während also früher ideologisch über die Bedeutung der Gesamtschule gestritten wurde, seien die Ergebnisse der empirischen (“evidenzbasierten”) Bildungsforschung geeignet, die Debatte zu versachlichen.

Vorschau

In einer Reihe von Postings will ich mich in den kommenden Monaten kritisch mit “evidenzbasierter” Wissenschaft und ihrer Rezeption auseinandersetzen. Damit will ich dieser Art von Forschung keineswegs ihre Berechtigung absprechen (ich habe selber viele Jahre so geforscht). Allerdings soll genauer beleuchtet werden, was sie leisten kann – und was sie nicht leisten kann. Eine Kritik ist nötig, denn die naive Überzeugung an die Gültigkeit ihrer Ergebnisse grenzt allzu oft selbst an Ideologie; schon da eine Fixierung auf diese Art der Forschung viele Erkenntnismöglichkeiten versperrt. Darüber hinaus halte ich die zunehmende Dominanz eines einzigen wissenschaftlichen Paradigmas in einer pluralistischen Gesellschaft für hochproblematisch.

Folgende Themen will ich behandeln (hoffentlich schaffe ich das alles;-))

  1. Probleme der Forschung: Auch wenn die Prämissen dieses wissenschaftlichen Paradigmas akzeptiert werden, ist die Aussagekraft ihrer Ergebnisse begrenzt.
  2. Gesellschaftskritik: Viele sich als kritisch verstehende Menschen ziehen Ergebnisse dieser Forschung heran, um Gesellschaftskritik zu üben. Viel zu selten sind sie sich dabei allerdings bewusst, dass sie sich Kritikmöglichkeiten gerade dadurch verbauen und gesellschaftliche Verhältnisse affirmieren statt zu kritisieren.
  3. Das hängt stark mit der Nutzung von Kategorien zusammen. Quantitative Wissenschaft setzt Kategorien anstatt sie zu dekonstruieren. Und durch das ständige Analysieren von Zusammenhängen zwischen diesen gesetzten Kategorien werden diese immer wieder in-Wert-gesetzt, also affirmiert. Gesellschaftskritik die aufzeigen will, dass die Gesellschaft auch anders aussehen könnte, die Zukunft also kontingent ist, wird damit systematisch erschwert oder sogar ganz unmöglich. Dies lässt sich am Beispiel der Wirtschaftswissenschaft gut zeigen.
  4. Das wiederum hängt damit zusammen, dass sozialwissenschaftliche Kategorien grundsätzlich anders funktionieren als naturwissenschaftliche. In Zeiten, in denen viele Soziolgie und Psychologiestudent_innen vor allem Statistik lernen, wird oft vergessen, dass gesellschaftliche wie wissenschaftliche Kategorien gesellschaftlich konstruiert sind (Berger/Luckmann).
  5. Zuletzt will ich noch auf die Unterscheidung von präskriptiven und deskriptiven Sätzen eingehen. Wissenschaft kann und will keine Werturteile begründen. Dennoch gelingt es der Wissenschaft nie komplett, werturteilsfrei zu arbeiten. Meine Erfahrung ist, dass je stärker sich die Wissenschaft ihrer Werturteilsfreiheit sicher ist, desto mehr versteckte Werturteile finden sich. Ich will diskutieren, wie gerade vermeintlich ideologiefreie, evidenzbasierte Forschung die die Werturteils-Falle tappt.

Literatur

Beck, Ulrich (1987). Risikogesellschaft : auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt
am Main: Suhrkamp.

Berger, Peter L. und Thomas Luckmann (1972). “Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit”. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer.

Dunkake, Imke u. a. (2012). “Schöne Schüler, schöne Noten? Eine empirische Untersuchung zum Einfluss der physischen Attraktivität von Schülern auf die Notenvergabe durch das Lehrpersonal”. In: Zeitschrift für Soziologie 41.2, S. 142-161.

Dux, Günter (1982). Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen (1970). Technik und Wissenschaft als “Ideologie”. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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