Wachstumskritik kommt um Konsumkritik nicht herum. Denn Wirtschaftswachstum bedeutet die Produktion von immer mehr Gütern und Dienstleistungen in der selben Zeit, und die nun mehr produzierten Waren müssen konsumiert werden. Wachstumskritiker_innen wie Niko Paech fordern daher weniger oder anderen Konsum und nehmen damit direkt die Verbraucher_innen und ihr alltägliches Verhalten in die Verantwortung.
Eine Initiative (das “Amt für Werbefreiheit”) aus Berlin-Kreuzberg engagiert sich für ein werbefreies Berlin. In ihrer Begründung schließt die Initiative direkt an wachstums- und konsumkritische Argumentationen an: Werbung habe das Ziel Menschen zum Konsum von immer mehr Waren zu manipulieren. Und der wachsende Verbrauch von Waren stehe den Zielen Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit entgegen. “The goal of advertising is to sell more stuff to more people more often for more money” wird der ehemaligen Marketing-Direktor von Coca-Cola zitiert.
Wie problematisch stetig steigender Konsum und die zunehmende Durchdringung von immer mehr Lebensbereichen durch Werbung ist, steht außer Frage. Allerdings stehen die Initiatoren vor einem nicht zu unterschätzenden Abgrenzungsproblem: nicht jeglicher Konsum wird problematisiert. Es geht dem “Amt für Werbefreiheit” nicht darum, Informationen (oder Werbung?) für kulturelle Veranstaltungen oder ähnliches zu verbieten. Sie meinen natürlich Werbung für Axe (sexistisch), Roundup (umweltschädlich) oder das neue iPhone (sozial und ökologisch katastrophal). Nur: Wie soll jetzt die gute von der schlechten Werbung abgegrenzt werden? Darf der Liederabend der Kneipe um die Ecke beworben werden? Und was ist mit dem Lady Gaga-Konzert in der o2-Arena? Und selbst wenn es ein Abgrenzungskriterium gäbe, wer hätte das Recht darüber zu entscheiden, welche Art und Werbung gut und welche schlecht ist?
Im Einwohner_innenantrag an die Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg wird das Problem mit der Eingrenzung auf “materielle Güter” umschifft. Das ist natürlich keine zufriedenstellende Lösung. So soll also weiterhin für hochproblematische Finanzdienstleistungen geworben werden dürfen? Und für Flugreisen? Nicht aber für den Fahrradladen in der Oranienstraße? (Diese Schwachstelle wurde dann auch umgehend von Antragsgegnern aus der SPD-Fraktion aufgegriffen.) Ganz offensichtlich bringt die Unterscheidung Ware — Dienstleistung das Problem nicht auf den Punkt.
Als Konsumkritiker_innen kritisieren die Leute vom “Amt für Werbefreiheit” Werbung, die zum (Mehr)Konsum von Gütern verleiten soll. Sie müssten daher definieren können was (1) Konsum ist, und was (2) problematischer Konsum ist. Für eine politische Kampagne kaum zu leisten. Ohne das Problem hier lösen zu können, möchte ich hier einige Diskussionsergebnisse eines aktuellen Doktorandenseminars zum Thema Konsumtheorie referieren um das Problem zumindest genauer spezifizieren zu können.
Was ist Konsum?
Ein Begriff von Konsum muss vor allem auch präzisieren, was kein Konsum ist. Die allermeisten breiten Konsumbegriffe leisten das nicht. So definiert Wikipedia (2.1.2014) Konsum allgemein als den “Verzehr oder Verbrauch von Gütern”. Nur: was ist ein Gut? Viele Ökonomen (und Rational-Choice-Theoretiker in der Soziologie) würden sagen: “alles was Nutzen stiftet”. Damit aber ist eigentlich jede Tätigkeit Konsum: Schreiben, Stricken, Sex.
Im Alltagsverständnis denken wir bei Konsum heute nicht nur an den Verbrauch oder Nutzung, sondern vor allem auch ans Kaufen. Vielleicht sogar primär: Wenn ich den selbst gepflückten Salat zubereite (und esse), denken wohl die allerwenigsten an “Konsum”, sehr wohl allerdings, wenn ich im Internet das neue iPhone 5s vorbestelle. Natürlich denken auch Konsumkritiker_innen vor allem an marktvermittelten Konsum. Ist also Konsum gleich Kaufen? Im Seminar schien es uns wiederum zu eng, den Konsumbegriff einzig und allein auf den Akt des Kaufens zu reduzieren. Schließlich wird beim Markttausch etwas erworben, das (in welcher Form auch immer) auch genutzt wird. Bei Pierre Bourdieu (1987) ist Konsum ein Kommunikationsakt. Konsum dient der Selbstkonstitution und damit gleichzeitig der Distinktion: über Konsum zeige ich, wer ich bin (und wer ich nicht bin). Dies kann aber sowohl im Akt des Kaufens geschehen (beim Einkaufen mit Freunden zeige ich, dass ich es mir leisten kann) als auch im Gebrauch (das Vorfahren mit dem neuen Ferrari, unabhängig davon ob ich diesen gekauft oder von wohlhabenden geliehen habe).
Ein zeitgemäßer Konsumbegriff muss daher in irgendeiner Art und Weise das Verhältnis von Verbrauch und kapitalistischer Produktion klären. Keine einfache Aufgabe. In einem noch unveröffentlichten Artikel unternimmt Thomas Welskopp diesen Versuch und definiert modernen Konsum (also nicht jeglichen, sondern Konsum in modernen, marktförmig organisierten Gesellschaften), als einen spezifischen Modus, der den potenziellen privaten Endverbrauch an eine vorangegangene Markttransaktion koppelt. Diese Definition verbindet also die beiden angesprochenen Aspekte des Kaufes und des Verbrauches, wobei der Kauf logisch vorgelagert ist. Das Wort “potentiell” zeigt an, dass Konsum auch dann stattfindet, wenn das erworbene Gut niemals im engeren Sinne verbraucht wird, die erworbenen mp3s also nie gehört werden, oder die Milch im Kühlschrank schlecht wird.
Kein Konsum dagegen ist der Gebrauch von Gütern, die nicht zuvor auf dem Markt erworben wurden, also Verbrauch, der über einen anderen “Modus” organisiert wird. Das betrifft den Verzehr von Gütern aus dem eigenen Garten (Subsistenzwirtschaft) oder die Nutzung von öffentlich bereitgestellter Infrastruktur wie Parkanlagen. (Hier bleibt allerdings unklar, wie die Nutzung hochgradig subventionierter Infrastruktur wie städtische Theater, öffentliche Schwimmbäder und Saunen etc. für die dennoch ein (vergleichsweise geringer) Preis verlangt wird, einzuordnen sind.)
Was ist problematischer Konsum?
Es existiert damit eine vorläufige Definition von Konsum. Kann eine solche Definition aber auch dabei behilflich sein, erwünschten von unerwünschtem Konsum zu unterscheiden? Und damit auch der Frage dienen, welche Werbung denn nun als akzeptable Information okay ist, und welche nicht?
Bei vielen Autoren findet sich die Unterscheidung (in unterschiedlichen Begrifflichkeiten) von Kaufen als Ziel (shopping as a goal) und Kaufen als Zweck (shopping with a goal) (vgl. Hellmann 2008: 36). Wer mit einem Ziel shoppt, der kauft beispielsweise eine Spülmaschine um sein Geschirr nicht mehr mit der Hand spülen zu müssen. Wer Shopping dagegen als Zweck betreibt, der geht Shoppen um des Shoppen Willens, der läuft durch Kaufhäuser mit dem Ziel etwas zu kaufen, ohne tatsächlich konkrete Ziele und Bedürfnisse zu verfolgen (hier passt der wunderbare Begriff des “Frustshoppens”). Diese Unterscheidung ist reizvoll und scheint auf den ersten Blick viele Probleme modernen Konsums und werbe-induzierter Bedürfnisse fassen zu können. Tatsächlich aber glaube ich nicht, dass sie sonderlich weit trägt: Auch wer Shopping als Zweck betreibt, hat im Augenblick des Kaufens ein Bedürfnis nach der Ware. Auch wenn dieses Bedürfnis möglicherweise erst wenige Augenblicke zuvor (beim Erblicken der Ware im Kaufhaus) entstanden ist, so folgt das Kaufen dennoch einem Bedürfnis. Und was ist der Unterschied zum Bedürfnis, dass einige Tage oder Wochen zuvor entstanden ist, beispielsweise beim durchblättern eines Spülmaschinenkataloges von Miele? Oder beim Betrachten der neuen Spülmaschine eines guten Freundes? Nein, die Unterscheidung zwischen “shopping as a goal” und “shopping with a goal” trägt nicht weit. Letztlich geht es hier darum, Kaufakte nach der Art der dahinterstehenden Bedürfnisse zu klassifizieren. Wer aber will die geistigen Prozesse von Menschen, die zum Kauf führen, klassifizieren und bewerten können?
Obige Definition von “modernem Konsum” gibt zumindest eine Richtung vor: Es ist zu vermuten, dass Konsumkritiker_innen die Zunahme von Verhalten im Modus des modernen Konsums kritisieren. Es ist nicht problematisch, wenn mehr Konzerte besucht werden, mehr im Park spazieren gegangen wird, mehr mit Freunden telefoniert wird oder der Deckungsgrad mit Versicherungsleistungen zunimmt. Es ist problematisch, wenn immer mehr Tätigkeiten an den Markt gekoppelt werden, also im “Modus” des Konsums stattfinden. Ein Mensch kann beispielsweise joggen gehen, indem er ein alte Schuhe aus dem Schrank kramt, Jogginghose und T-Shirt und los läuft. Der Mensch kann aber auch davon überzeugt sein, dass zunächst eine Laufanalyse zur Fuß- und Beinhaltung notwendig ist, verschiedene paar Schuhe (für unterschiedliche Witterungsbedingungen) besorgt werden müssen, außerdem eine Gore-Tex-Jacke und ein Pulsmessgerät. In einem solchen Fall ist es der Werbeindustrie offensichtlich gelungen, die Tätigkeit des Laufens an umfangreiche vorausgehende Markttransaktionen zu koppeln.
Konsumkritik ist damit indirekt Kritik an einer Vermarktlichung von immer mehr gesellschaftlichen Bereichen. Sie lässt sich mit Wachstumskritik verbinden: Der Markt ist permanenter Steigerungs- und Wachstumslogik unterworfen. Tätigkeiten, die im Modus des Konsums ausgeführt werden, werden bald von dieser Steigerungslogik erfasst. Es müssen dann bald modischere, funktionalere Schuhe gekauft und die Jacke mit der neuesten Membran gekauft werden. Andere Gesellschaftsbereiche dagegen unterliegen dieser quantitativen Steigerungslogik nicht oder nur in begrenztem Umfang. Es muss also darum gehen, die Vermarktlichung (Kommodifizierung im Sinne Karl Polanyis, 1977) immer weiterer Gesellschaftsbereiche zu begrenzen oder sogar rückgängig zu machen.
Konsumdefinition und Werbeverbote?
Helfen diese Überlegungen nun, ein Werbeverbot besser abzugrenzen als durch die Fokussierung auf “materielle Güter”? Zumindest ließe sich ein Werbeverbot für “moderne Konsumgüter” (im Sinne obiger Definition) formulieren. Dann wäre nur die Bewerbung von Gütern verboten, die auf dem Markt erworben werden sollen. Stadtteilfeste, öffentlich bereitgestellte Güter und Infrastruktur, Tauschbörsen, Selbsthilfewerkstätten etc. könnten weiterhin beworben werden.
Letztlich lässt sich aber nicht das Dilemma lösen, dass sowohl das gebrauchte Fahrrad als auch der neue Porsche Cayenne marktförmig gehandelte Güter darstellen, also unter dem Aspekt des Konsums identisch sind. Eine normative Bewertung von Werbung ist daher unumgänglich. Mir erschiene es am brauchbarsten, einen möglichst allgemeinen Bewertungsmaßstab zu Grunde zu legen. Wie aus der Diskussion hervorgeht wäre es sinnvoll, diesen Maßstab an der Wachstumsorientierung des Warenanbieters festzumachen. Unternehmen, die kein explizites Wachstumsziel haben könnten dann weiterhin werben. Das trifft auf alle kostendeckenden und nicht-profitorientierten Veranstaltungen zu, aber auch auf kleine Unternehmen, die nicht danach streben, die Anzahl der Filialen und die Anzahl der verkauften Güter zu erhöhen. Das wäre eine Abgrenzung, die es der Nudelbude erlauben würde zu werben, McDonalds aber nicht.
Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass ein solcher Maßstab in einer Gesellschaft, in der Wirtschaftswachstum als Lösung vieler sozialer Probleme angesehen wird, nicht mehrheitsfähig ist. Es erscheint mir daher pragmatischer, ein umfassendes Werbeverbot für alle modernen Konsumgüter anzustreben, aber alle kostendeckenden und nicht-profitorientierten Veranstaltungen hiervon auszunehmen. Damit ließen sich fast alle selbstorganisierten Veranstaltungen weiterhin bewerben. Kleine und mittelständische Unternehmen würden natürlich protestieren. Es stellt sich aber die Frage, ob kleine Geschäfte die hauptsächlich von Anwohnern aus dem nahen Umfeld genutzt werden, tatsächlich auf Werbung angewiesen sind. Vermutlich würde ihnen ein Werbeverbot — das vor allem die übermächtigen Großkonzerne trifft — mehr nützen, als ihnen das Verbot eigener Werbung schadet.
Literatur
Karl Polanyi (1977). The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Wien: Europaverlag
Pierre Bourdieu (1987). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Kai-Uwe Hellmann (2008). “Das konsumistische Syndrom”. In: Räume des Konsums. Hrsg. von Kai Uwe Hellmann und Guido Zurstiege. Wiesbaden: VS Verlag, S. 19-50