Marktradikaler Ultranationalismus — zur Ideologie der „Alternative für Deutschland“

Nicht erst seit den spektakulären Wahlerfolgen bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg wird intensiv darüber diskutiert, ob es sich bei der „Alternative für Deutschland“ (AfD) um eine rechtsextreme, eine rechtspopulistische oder „nur“ eine Partei rechts von der CDU handelt. Ich möchte mich hier etwas genauer mit der Ideologie dieser neuen Partei auseinandersetzen. Ich argumentiere dabei, dass die Ideologie der AfD nur im Zusammenspiel von Marktradikalismus und Ultranationalismus verstanden werden kann. Dabei geht es mir hier insbesondere darum, den ideologischen Überbau dieser Partei theoretisch darzulegen und weniger um den empirischen Nachweis, der an anderer Stelle geleistet werden muss (für meine empirischen Aussagen beziehe ich mich insbesondere auf Häusler 2013).

In den Medien wird oft die euro- und europakritische Haltung der AfD als Beleg für ihre „Rechtslastigkeit“ herangezogen. Eine solche Schlussfolgerung greift natürlich zu kurz, Europaskeptizismus alleine macht noch keine rechte Partei aus (vgl. Häusler 2013, 91). Dasselbe gilt für andere Merkmale wie Ausländerfeindlichkeit, Chauvinismus, Autoritarismus etc., die häufig bei rechten Parteien zu finden sind: erst in ihrem spezifischen Zusammenspiel machen sie ein extrem rechtes Weltbild aus. Es gilt also die Ideologie einer Partei oder Bewegung als Ganzes (und nicht einzelne Versatzstücke) in den Blick zu nehmen.Einen solchen Zugang bietet der Faschiasmusbegriff Roger Griffins, der im angelsächsischen Raum intensiv zur Analyse zeitgenössischer extrem rechter Bewegungen verwendet wird, in Deutschland aber bisher nicht breit rezipiert wurde (auf Griffin wird weiter unten zu sprechen kommen sein; für eine deutsche Zusammenfassung vgl. Ferger 2011, 32ff). Dies als Grundlage der folgenden Überlegungen.

Neoliberalismus

Neoliberale bzw. „neoklassische“ Ansichten dominieren bis heute die wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühle an deutschen Universitäten. Wissenschaftliche Grundlage ist die Vorstellung nutzenmaximierender Individuen (Homo Oeconomicus), die durch ihr Handeln (unter den Restriktionen „geeigneter“ Rahmenbedingungen) zum Wohlstand aller beitragen — hier wird oft die invisible hand-Metapher von Adam Smith bemüht. Marktförmige institutionelle Arrangements werden dabei vorgezogen, da sie besonders effizient seien und somit geeignet, den Wohlstand aller zu mehren. Neoliberale Ökonomen plädieren daher für die Einführung marktförmiger Mechanismen auch in Bereichen, die zuvor nicht als Markt organisiert waren (z.B. im Gesundheitswesen). Ein weiterer Eckpfeiler der Mainstream-Ideologie an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten ist die Wachstumsgläubigkeit. Wirtschaftliches Wachstum (gemessen über das Bruttoinlandsprodukt, BIP) ist das Ziel moderner Wirtschaftspolitik, wird mit gesellschaftlichem Fortschritt gleichgesetzt und meist als einzige Lösung angesehen, um gesellschaftliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, steigende Kosten im Sozialsystem u.a. zu lösen. Es bedürfte vermutlich keiner großen Anstrengungen, um Neoliberalismus und Wachstumsfetischismus als Kernideologie der AfD nachzuweisen. Das Führungspersonal dieser Partei besteht zu einem großen Teil aus Ökonomen, Personen des Banken- und Finanzsektors und Unternehmensberatern, die genau diese Ideologie vertreten.

Ultranationalismus

Nationalismus von Ultranationalismus abzugrenzen ist schwierig. In der Literatur wird Ultranationalismus meist „liberalen“ Nationalismen gegenübergestellt (nebenbei eine Unterscheidung, die ich noch nie verstanden habe, da m. E. jeder Nationalismus — konsequent weiter gedacht — zu Ultranationalismus führen muss). Roger Griffin versteht Ultranationalismus als radikal anti-liberale nationalistische Ideologie. Dieser antiliberale Nationalismus lässt sich gut an der Vorstellung der Nation als „lebendem Organismus“ verdeutlichen:

In this conception all human existences are held to be shaped decisively by their relationship to this unique cultural life form which has slowly grown up in the seebed of history. The nation precedes and will survive the „mere“ individual (the focal point of liberal values), so that to live life in such a way as to nourish it is the highest, indeed the only, source of value. (Griffin 1996, 158)

Die Nation wird als eine natürliche, organische und homogene Gemeinschaft aufgefasst, die dem Individuum ontologisch und normativ vorgelagert ist. Daraus folgt auch, dass unterschiedliche Interessen innerhalb des „Volkskörpers“ keinen Platz haben, es gibt einen einheitlichen Volkswillen und individuelles Streben dient allein dem Wohl und der Entwicklung der Nation. Im „klassischen“ Faschismus wird die Homogenität der Nation üblicherweise rassistisch begründet. Aufgrund der Diskreditierung rassistischer Weltbilder findet sich allerdings offener Rassismus selbst bei neonazistischen Parteien wie der NPD immer seltener. Statt dessen wird kulturalistisch argumentiert: jede Nation verfüge über eine ihr spezifische, natürliche und unveränderliche Kultur, die es zu schützen und vor „Verunreinigungen“ zu bewahren gelte. Das Wort „Rasse“ wird also durch „Kultur“ ersetzt, weshalb solche ethnopluralistischen Vorstellungen auch als „Rassismus ohne Rassen“ bezeichnet werden (vgl. Globisch 2008). Ultranationalisten lehnen daher multikulturelle Ideen grundsetzlich ab und warnen statt dessen vor einer Verfremdung der eigenen Kultur durch äußere Einflüsse (z.B. die vermeintliche „schleichende Islamisierung“).

Der AfD Ultranationalismus nachzuweisen ist sicher deutlich schwieriger, da die hochgebildete Führungsriege um Bernd Lucke in der Lage ist, entsprechend vorsichtig zu formulieren. Es gibt jedoch deutliche Hinweise, dass Ultranationalismus zumindest im Umfeld (vgl. Häusler 2013) und an der Basis der AfD (vgl. Interview mit ausgetretenem AfD-Mitglied in der taz) eine breite Basis hat. Wie sich die offizielle Linie der Partei entwickeln wird, bleibt abzuwarten.

Wie geht das zusammen?

Nationalismus ist kollektivistisch, das Individuum ist der Nation untergeordnet und existiert im Ultranationalismus lediglich als Teil des „Volkskörpers“. Markt- bzw. Neoliberalismus dagegen ist vom Wortsinne her „liberal“. Liberale Vorstellungen gehen vom Vorrang des Individuums aus, sowohl ontologisch (Thatchers bekannter Ausspruch: „there is no such thing as society“), wissenschaftlich-methodologisch (methodologischer Individualismus) als auch als normative Gesellschaftsauffassung. Wie ist also die erfolgreiche Allianz von Neoliberalismus und ultranationalistischem Gedankengut in der AfD (und vielen anderen derzeit europaweit erfolgreichen rechtspopulistischen Parteien) zu verstehen?

Das erfolgreiche Zusammenspiel der beiden ideologischen Strömungen lässt sich verstehen, wenn wir uns bewusst machen, dass der derzeitige neoliberale Mainstream mit der ursprünglichen liberalen Idee, der Freiheit des Individuums, nur noch wenig zu tun hat. So verkürzte die nun (nicht zufällig) von der AfD abgelöste FDP ihr Freiheitsverständnis auf Markt- und Konsumfreiheit. Dabei ist aber — und das ist hier entscheidend — die (Markt)Freiheit des Individuums kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Generierung von Wohlstand. Paradigmatisch für ökonomistische Vorstellungen dieser Art sei hier eine Rede des Wirtschaftsethikers Karl Homann angeführt (Homann 2005). Mehr Marktfreiheit, so versucht Homann moralphilosophisch herzuleiten, mehre den Wohlstand aller. So gelte es, „[…] Markt und Wettbewerb zu verbessern, auf weitere Bereiche auszudehnen, die Märkte zu entfesseln — zum Wohl aller, der Armen und der Reichen“ (ebd., 27). Wobei Wohlstandsmehrung — wie in ökonomistischen Positionen üblich — auf Wirtschaftswachstum und dieses wiederum auf ein Wachstum des BIP verengt wird. Die Freiheit des Marktakteurs wird nicht um der individuellen Freiheit willen gefordert (wenn irgendjemand Gegenbeispiele findet, her damit!) sondern als Mittel verstanden, um den Wohlstand Deutschlands zu mehren. Ein dem BIP ähnliches Konstrukt, das veraltete Bruttonationaleinkommen macht es begrifflich noch deutlicher: das in-Wert-gesetzte Ziel ist kein individualistisches (die Freiheit des Einzelnen), sondern ein kollektivistisches (der Wohlstand der deutschen Nation). Dieses Deutungsmuster ist heute extrem weit verbreitet. Wie ich hier in Ansätzen diskutiert habe, ist es auch in bildungspolitischen Diskursen üblich, die Notwendigkeit von besserer Bildung und Chancengleichheit über das Wohl Deutschlands zu begründen. Ziel von Bildungspolitik ist es dann, die „Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands“ zu steigern, Deutschland dürfe „im Kampf um die besten Köpfe“ nicht international zurückfallen etc. pp. Im ökonomischen Mainstream-Diskurs wird also ein permanenter Wettbewerb (oft auch als „Kampf“ bezeichnet) zwischen Kollektivsubjekten (Nationalstaaten) konstruiert, wobei der Einzelne durch sein individuelles Handeln zu diesem übergeordneten Ziel beizutragen hat.

An dieser Stelle dürfte nun der Zusammenhang von Neoliberalismus und Ultranationalismus deutlich werden. Ziel neoliberaler Politik ist die Überlegenheit Deutschlands, allerdings nicht mehr bezogen auf militärische Stärke, Bevölkerungswachstum oder Expansionspolitik, sondern auf ökonomischer Ebene. Dabei wird Wachstum als Interesse aller aufgefasst (s. obiges Homann-Zitat), es wird also ein homogenes Interesse aller Deutscher am Wachstum des Bruttoinlandsproduktes unterstellt und diesem Ziel haben sich individuelle Interessen unterzuordnen. Der gute deutsche Wirtschaftsbürger soll hart arbeiten, soll konsumfreudig sein (vielleicht sogar Urlaub im Inland machen, wie Gerhard Schröder einmal gefordert hat), soll als Arbeitnehmer Lohnzurückhaltung üben wenn es dem Wirtschaftsstandort dient etc. Die Freiheit des Einzelnen hört da auf, wo individuelles Handeln die „Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands“ beeinträchtig und damit ist die antiliberale Wendung moderner Wachstums- und Wettbewerbssemantik vollzogen. Eine Semantik, die insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten erfolgreich und geeignet ist, Wähler zu mobilisieren (zur theoretischen Einbettung dieser Argumentation vgl. Vobruba 1986). Damit gelingt es dem marktradikalen Ultranationalismus, wie ich diese Konglomerat hier nennen möchte, weit verbreitete ultranationalistische Ressentiments aufzugreifen und ihnen einen ökonomischen und damit vermeintlich rationalen Anstrich zu geben. Die folgenden Punkte zeigen, wie es der AfD und anderen Akteuren gelingt, ultranationalistische Positionen ökonomisch zu framen.

  1. Wohlstandschauvinismus. In der ökonomischen Weltarena kämpfen Nationalstaaten darum, ihren jeweiligen Volkswohlstand zu maximieren. Ein wichtiges Mittel in diesem Kampf sind Investitionen, beispielsweise in Bildung oder Infrastruktur. Der national generierte Wohlstand wird dabei als legitim aufgefasst, da er auf „richtigen“ Investitionsentscheidungen und der harten Arbeit der Bürger beruht (grenzüberschreitende Ausbeutungsstrukturen werden geleugnet oder nicht thematisiert). Jeder Nationalstaat hat demnach einen legitimen Anspruch auf den durch das Volk erarbeiteten Wohlstand.
  2. Äußere Feinde. Äußere Feinde sind andere Nationalstaaten, die mit uns um den Wohlstand konkurrieren. So musste Deutschland zuletzt einen einen Rückschlag einstecken, als es von China als „Exportweltmeister“ verdrängt wurde. Weitere Bedrohungen für unseren Wohlstand sind europäische Umverteilungsmechanismen. Insbesondere der europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) führe dazu, dass der von uns legitim durch harte Arbeit erwirtschaftete Wohlstand an andere Nationen fließe, ohne, dass diese ihn sich „verdient“ hätten. „Die Griechen“ leben dann auf „unsere“ Kosten.
  3. Diese Argumentation geht oft einher mit kulturellen Homogenitätsvorstellungen. So beruhe der deutsche Wohlstand auf der harten Arbeit der Deutschen, und die griechische Wirtschaftskrise wird einer spezifischen griechischen, bzw. südländischen Kultur der Faulheit zugeschrieben. Ein Zitat des AfD-Vorsitzenden Bernd Lucke bringt dies auf den Punkt: „Wenn die Menschen in diesen Ländern weniger und entspannter arbeiten wollen und dafür weniger Wohlstand in Kauf nehmen, bitte schön. Das eigene Glück zu verfolgen, ist doch das elementare Recht jedes Volks.“ (Lucke 2013 in der FAZ, zitiert nach Häusler 2013, 24). Hier werden kulturell homogene Völker mit einheitlichem „Volkswillen“ unterstellt. Das eine Volk (Griechenland) entscheidet sich für Faulheit und Armut, dass andere (Deutschland) für Fleiß und Wohlstand. Oft wird so populistisch der vermeintlich einheitliche Volkswille (insbesondere an Wohlstand und BIP-Wachstum) den lediglich auf Eigeninteresse bedachten politischen Eliten gegenübergestellt, weshalb Parteien wie die AfD Volksentscheide befürworten. „Dabei wird „das Volk“ als homogenisierter Begriff für die unterschiedlichen Partikularinteressen angestammter Bevölkerungsteile in Kontrast zur „politischen Klasse“ gesetzt, die angeblich zum Zwecke der eigenen Bereicherung die „nationalen Interessen“ an eine undemokratische, multikulturelle und transnational orientierte Europäische Union verkauft habe“ (Häusler 2013, 19).
  4. Innere Feinde. Die Entität Nation wird in ultranationalistischen Vorstellungen nicht nur von äußeren (anderen Nationen), sondern auch inneren Feinden bedroht. Innere Feinde sind Menschen, die nicht in die Homogenitätsvorstellung passen und so eine potentielle Bedrohung der Nation darstellen. Die Andersartigkeit wurde in NS-Zeiten und wird heute noch von Neonazis rassistisch oder antisemitisch begründet, die modernisierte extreme Rechte bedient sich kulturalistischer Deutungsmuster (s.o.). Anders dagegen der marktradikale Ultranationalismus: hier wird der Wert des Individuums für die Nation anhand seiner Produktivität gemessen (also des individuellen Beitrags zum Volkswohlstand bzw. BIP). Wertvoll sind „hochgebildete Fachkräfte“ und „Steuerzahler“, wertlos dagegen Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbstständig auf dem Arbeitsmarkt verdienen können. Dies ist offizielle Politik im Bereich der Zuwanderung, wo Menschen heute wie selbstverständlich über ihre wirtschaftliche Nützlichkeit sortiert werden. Aber auch im Hinblick auf deutsche Staatsbürger ist die Abwertung wirtschaftlich unproduktiver Menschen weit verbreitet. So wurden in der von Wilhelm Heitmeyer herausgegebenen Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ (Endrikat und Heitmeyer 2008: 69) die Abwertung von Obdachlosen, Behinderten und Langzeitarbeitslosen als neues Syndrom gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in die statistischen Analysen mit aufgenommen. Auf Sozialleistungen angewiesene, vermeintlich „unproduktive“ Menschen werden damit zu „Sozialschmarotzern“ oder gleich „Parasiten“ die — wenn noch nicht „ausgemerzt“ — so doch mit entsprechendem Druck zum arbeiten gebracht werden müssen. Repressionen gegen Langzeitarbeitslose sind damit ganz im Sinne eines marktradikalen Ultranationalismus.
  5. Die Konstruktion innerer, unproduktiver „Feinde“ geht mit sozialdarwinistischen Vorstellungen einher. Sozialdarwinismus bedeutet die Übertragung des Spencer’schen Prinzip des „survival of the fittest“ auf menschliche Gesellschaften. Sozialdarwinistische Vorstellungen finden sich paradigmatisch in den Äußerungen Thilo Sarrazins (beispielsweise im Lettre Internationale) wenn er Menschen nach ihrer ökonomischen Produktivität bewertet und das „Auswachsen“ von „etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden“ fordert. Sarrazin vermischt hier eine ökonomische Bewertungslogik von Menschen (gemäß ihrer Produktivität) mit genetischer Abstammungslehre. Soziale Sicherungssysteme sind dieser Logik nach ein Problem für die nationale Produktivität, da sie die wirtschaftlich nicht Erfolgreichen stärken, anstatt zu einer „gesunden“ Selektion, also einem „survivial of the economically fittest“, beizutragen. Solche Ideen finden sich beispielsweise, wenn der heutige AfD-Sprecher Konrad Adam in Die Welt den Vorschlag unterbreitete, dass Wahlrecht an die ökonomische Produktivität zu binden (Adam in Die Welt 2006, zitiert nach Häusler 2013, 74f).

Zusammenfassend hoffe ich gezeigt zu haben, dass sich Ultranationalismus und zeitgenössisches neoliberales Gedankengut gut zu einer recht konsistenten rechtspopulistischen Ideologie vereinen lassen. Das Verbindungsglied zwischen beiden Ideologien ist nationaler Wohlstandschauvinismus und eine umfassende ökonomische Bewertungslogik. Ist der Ethnopluralismus, also die Kulturalisierung des Rassismus eine Strategie der neuen Rechten ihre menschenverachtenden Einstellungen „salonfähig“ zu machen, so ist die Ökonomisierung des Sozialen möglicherweise die nächste Stufe. Anstatt über kulturelle werden Menschen nun anhand ökonomischer Kriterien kategorisiert und hierarchisiert. Wertvolles Leben ist nun nur noch solches, dass der jeweiligen nationalen Volkswirtschaft nützt.

Faschistisches Potential?

Abschließend möchte ich hier die weitergehende Frage aufwerfen, ob der marktradikale Ultranationalismus auch direkt faschistische Tendenzen annehmen kann. Theoretisch gehe ich auch hier vom Faschismusbegriff Roger Griffins‘ aus, der nicht als Epochenbezeichnung zu verstehen ist, sondern eine Ideologie bezeichnet, die auch bei zeitgenössischen ultranationalistischen und neonazistischen Gruppierungen anzutreffen ist.

Den strukturellen Kern faschistischer Ideologie macht laut Griffin „palingenetischer Ultranationalismus“ aus. Während Ultranationalismus bereits diskutiert und das Verhältnis zum Neoliberalismus herausgearbeitet wurde, gilt es nun noch den Begriff der Palingenese zu klären. Dieser wird am besten mit „Neugeburt“ übersetzt: Faschisten streben eine Neugeburt der Nation in einer nachliberalen politischen Ordnung an. Dem liegt zunächst die kulturpessimistische Vorstellung zugrunde, dass sich die Nation in einer tiefen Krise befindet. Die von inneren und äußeren Feinden bedrohte, „degenerierte“ Nation ist in einer Phase der Dekadenz und Korruption, hat mit „Schmutz“ und „Fäulnis“ zu kämpfen. Faschisten sehen aber nun diese Phase des Verfalls der Nation als Chance, hier liegt bereits der Keim „der bevorstehenden Neugeburt der Nation in einer nachliberalen politischen Ordnung und einer regenerierten abgeschlossenen Kultur“ (Griffin 2005, 28). In einem Akt des Kampfes gegen Dekadenz, innere und äußere Feinde und einer „Reinigung“ des „Volkskörpers“ kommt es es zur Neugeburt der Nation in einer „regenerierten“, homogenen Volksgemeinschaft. Diese Vorstellung birgt erhebliches Gewaltpotential und kann in der Praxis auf systematische Verfolgung und Massenmord hinauslaufen.

Betrachten wir marktradikal-ultranationalistische Ideologie, so ist diese durchaus mit der kulturpessimistischen Vorstellung von Krise und Dekadenz vereinbar. Ursache für die wirtschaftliche Krise ist dann eine „Degeneration des deutschen Volkes“, eine sich breit machende Faulheit und Dekadenz. Hauptschuldige sind demnach „Sozialschmarotzer“, die nicht mehr bereit sind zu arbeiten, sondern sich „auf Sozialleistungen ausruhen“. Eine solche Argumentation fand sich 2010 in einem Gastbeitrag des damaligen Vizekanzlers Guido Westerwelle in Die Welt, in dem er vor „anstrengungslosem Wohlstand“ und „spätrömischer Dekadenz“ warnte (Westerwelle 2010). Diese Faulheit und Dekadenz sei der Grund der „Deutschland scheitern“ lassen könne. Notwendig, so Westerwelle weiter, sei eine „geistig-politische Wende“ statt der Diskussion um höhere Hartz IV-Sätze, die „sozialistische Züge“ trage.

Der kurze Beitrag Westerwelles in Die Welt reicht sicher nicht aus, ihm hier faschistische Ideologie zu unterstellen. Dennoch: es wäre ein Leichtes, die Angst vor Krise und Dekadenz und die Hoffnung auf eine „geistig-politische Wende“ mit dem dazu notwendigen „Kampf“ gegen „Sozialschmarotzer“ und andere „Asoziale“ sowie der „Ausmerzung“ „linken“ und „sozialistischen“ Gedankenguts zu verbinden und auf einen starken Führer zu setzen, der dies durchsetzt und so die Nation zu Höherem führt. Soweit ich es sehe, wurde dieser Schritt in den Äußerungen von AfD-Mitgliedern, aber auch in den hier analysierten Äußerungen von Thilo Sarrazin und Guido Westerwelle bisher nicht gegangen, weshalb die Ideologie mit „marktradikaler Ultranantionalismus“ gut beschrieben ist. Griffin (2006) argumentiert aber überzeugend, dass sich faschistische Ideologie chamäleonartig an seine Umgebung anpassen und Versatzstücke anderer Ideologien integrieren kann. Es wäre daher geradezu überraschend, wenn Sie sich nicht auch unter dem Deckmantel ökonomischer Rationalität tarnen könnte. Die Entwicklung gilt es jedenfalls genau zu beobachten.

 

Literatur

Kirsten Endrikat und Wilhelm Heitmeyer (2008). „Die Ökonomisierung des Sozialen. Folgen für ‚Überflüssige‘ und ‚Nutzlose'“. In: Deutsche Zustände 6. Hrsg. von Wilhelm Heitmeyer, S. 55–72

Florian Ferger (2011). Tschechische Neonazis. Ursachen rechter Einstellungen und faschistische Semantiken in Zeiten schnellen sozialen Wandels. Hrsg. von Anton Shekhovtsov. Bd. 2. Explorations of the Far Right. Stuttgart: ibidem

Claudia Globisch (2008). „Warum fordert die NPD ‚die Türkei den Türken?'“ In: 88 Fragen und Antworten zur NPD. Weltanschauung, Strategie und Auftreten einer Rechtspartei – und was Demokraten dagegen tun können. Hrsg. von Fabian Virchov und Christian Dornbusch. Schwalbach: Wochenschauverlag, S. 65–67

Roger Griffin (1996). „Staging the Nation’s Rebirth. The Politics and Asthetics of Performance in the Context of Fascist Studies“. In: Fascism and Theatre. Hrsg. von Günther Berghaus. Oxford: Berghahn Books, S. 11–29

Roger Griffin (2006). „Fascism’s new faces (and new facelessness) in the ‚post-fascist‘ epoch“. In: Fascism Past and Present, West and East. Hrsg. von Roger Griffin, Andreas Umland und Werner Loh. Bd. 35. Soviet and post-Soviet politics and society. Stuttgart: ibidem, S. 29–67

Alexander Häusler (2013). Die „Alternative für Deutschland“ – eine neue rechtspopulistische Partei? Materialien und Deutungen zur vertiefenden Auseinandersetzung. Studie im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung. Düsseldorf: Forena

Karl Homann (2005). Ethik und Marktwirtschaft – tatsächliche Gegensätze? Vortrag vor dem 13. gesellschaftspolitischen Forum der Banken. Berlin

Georg Vobruba (1986). „Die populistische Anrufung der Gemeinschaft“. In: Populismus und Aufklärung. Hrsg. von Helmut Dubiel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 221–247

Guido Westerwelle (2. Nov. 2010). „An die deutsche Mittelschicht denkt niemand“. In: Die Welt. url:http://www.welt.de/debatte/article6347490/An-die-deutsche-Mittelschicht-denkt-niemand.html

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