PISA-Studien: was die Welt lernen soll.

“Die gerade erschienene Pisa-Studie verbreitetet einen Hauch von Vorweihnachtsfreude in den Stuben der deutschen Kultusminister: Deutschland hat in allen drei Disziplinen überdurchschnittlich abgeschnitten”, kommentiert Anna Lehmann in der taz nach Bekanntgabe der neuen PISA-Ergebnisse. Sie stimmt damit ein in die Standard-Interpretation der nach-PISA-Entwicklung (in der optimistischen Variante): Die PISA-Studie habe auf ein wichtiges Problem aufmerksam gemacht, es wurde einiges getan, offensichtlich mit Erfolg, aber es bleibe noch viel zu tun.

Zwei Fragen werden in der zyklischen Berichterstattung zu PISA leider zu selten gestellt:

  1. Worin sind die deutschen Schüler besser geworden?
  2. Warum sind sie das?

Beginnen wir mit einer Diskussion der 2. Frage, die die Wochenzeitung Die Zeit auch dem PISA-Koordinator Andreas Schleicher gestellt hat: „Wie lässt sich der deutsche Erfolg erklären?“ Schleicher:

Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Erst einmal hat man Pisa für Veränderungen genutzt. Man hat mit den nationalen Bildungsstandards gemeinsame Ziele definiert und die Schulen darauf verpflichtet. Die Diagnostik ist besser geworden, das heißt man weiß heute genauer, welche Schüler Probleme beim Lernen haben. Zudem hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich hohe Leistungen und Chancengerechtigkeit nicht ausschließen. Man gibt also schwache oder schwierige Schüler nicht mehr so leicht auf wie früher.

Ist es nicht erstaunlich, wie schwammig Andreas Schleicher – der sonst nicht müde wird “best practice” Beispiele aus erfolgreichen Ländern zu propagieren – hier antwortet? Es gab Veränderungen im deutschen Schulsystem. Aha. Es wird mehr und genauer gemessen. Okay. Und dann hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich Leistung und Chancengleichheit nicht ausschließen. Hmmm. Der Soziologie muss natürlich kritisieren: das sind keine Erklärungen. Schleicher gibt keine Hinweise darauf wie Kulturwandel und bessere Diagnostik zu besseren Leistungen führen. Ich denke nicht, dass diese vage Antwort dem wenigen Platz im Zeit-Interview geschuldet ist. Ich vermute eher: Andreas Schleicher weiß es auch nicht so genau. Und das ist kein Wunder: PISA ist eine quantitative Querschnittsstudie, die schon von ihrer Methodik her nicht geeignet ist, Prozesse zu beobachten die zu unterschiedlichen Leistungen führen. Viel mehr als Korrelationen können mit PISA nicht beobachtet werden.

Was mit PISA sehr gut geht: Länderrankings erstellen. Es ist keine allzu steile These, dass die OECD mit der PISA-Studie vor allem den Bildungswettbewerb ankurbeln wollte. Andreas Schleicher wird selten müde, den Mehrwert von Autonomie und Wettbewerb zu betonen, so bei dem PISA “Gewinner” China:

[…] wenn Sie, wie ich es vor Kurzem getan habe, in die chinesische Provinz fahren, sehen Sie, dass in den dortigen Schulen enorm viel passiert. Am stärksten war ich über die Bereitschaft der Lehrer beeindruckt, sich weiterzuentwickeln und voneinander zu lernen. Da habe ich sehr viele offene Klassentüren gesehen. Gleichzeitig gibt es einen ständigen Wettbewerb zwischen den Lehrern, wer seine Klasse oder seine Schule am meisten voranbringt.

Erneut beruht hier der Prozess – also wie Wettbewerb zwischen Lehrern und die an anderer Stelle erwähnte leistungsabhängige Bezahlung zu besseren Ergebnissen führt – auf einer subjektiven Interpretation Schleichers und wird gerade nicht (und kann nicht) wissenschaftlich belegt werden.

Ein befreundeter Professor, der ein OECD-Paper verfasste, erzählte mir, dass nach der Fertigstellung die Nachfrage von Seite der OECD kam, ob nicht noch eine Länderrangliste mit in das Papier aufgenommen werden könne. Auch das belegt die These, dass es der OECD mit der Initiierung der PISA-Studie vor allem um mehr Wettbewerb, also eine Vermarktlichung der Bildung ging. Die Strategie hat gezogen: es gibt jetzt einen Wettbewerb um die besten PISA-Ergebnisse: zwischen Staaten, zwischen Bundesländern und wenn es nach der OECD geht bald auch auf noch niedrigerer Aggregationsebene. Nicht zu den PISA-besten zu gehören kratzt am Selbstbewusstsein der Deutschen. Auf die Suchanfrage „PISA ‚Deutschland nur Mittelmaß'“ liefert google 38.600 Treffer.

Aber ist nun Deutschland nicht wirklich besser geworden? Hat die OECD nicht einfach recht gehabt, und der Wettbewerb wirkt? Hier ist zu entgegnen, dass deutsche Schüler in der Bearbeitung der PISA-Aufgaben besser geworden sind. In Deutschland war die Form der PISA-Tests vor der ersten Studie nahezu unbekannt. Der Einfluss der Studie war wie gesagt durchschlagend: es wurden einheitliche Bildungsstandards eingeführt, ein Zentralabitur, standardisierte Aufgaben die von anderen korrigiert werden können, also ein-eindeutig mit richtig oder falsch bewertet werden, unabhängig von der jeweiligen Lehrerpersönlichkeit. Das deutsche Bildungssystem wurde also den PISA-Standards angepasst. Deutsche Schüler_innen lernen also verstärkt die Form des Testens, die in PISA genutzt wird. Meine Interpretation ist, dass es diese Anpassung des Schulsystems an PISA-Standards ist, die zu besseren PISA-Ergebnissen geführt hat. Ob dies aber gleichbedeutend mit der Aussage ist, dass deutsche Schüler_innen nun über mehr Kompetenzen verfügen, ist eine andere Frage.

Was misst PISA aber nun?

Auch hier möchte ich mit einem Zitat Andreas Schleichers beginnen:

Ohnehin ist die heutige Debatte weniger ideologisch als noch zu Beginn. Das ist für mich auch der Verdienst der empirischen Bildungsforschung.

Weniger ideologisch bedeutet hier: es wird weniger festgefahren über verschiedene Schultypen diskutiert. Es wird kaum mehr die Frage gestellt, was Bildung sein soll. Die Interpretation von Bildung basiert nun auf gemessenen Ergebnissen, ist “evidenzbasiert”. Weniger ideologisch bedeutet hier also vor allem: es prallen weniger unterschiedliche, meist politischen Lagern zuzuordnende Vorstellungen über Bildung aufeinander. Das kann mensch begrüßen. Kritisch würde ich einwenden: politische Konfliktlinien über den Inhalt von Bildung und die Art der Bildungsvermittlung wurden eingeebnet. Alle (!) haben nun ein Verständnis von Bildung übernommen: das der OECD. Bildung ist das, was die OECD misst. Und darin müssen “wir” besser werden.

Nun aber endlich zur entscheidenden Frage: Was misst PISA eigentlich? Entwickelt wurde das PISA-Mess-Instrumentarium über die IALS-Studie (International Adult Literacy Survey, vgl. Statistics Canada 1995) die als Vorläufer von PISA verstanden werden kann (und nun mit der PIAAC-Studie (“Beim Pisa für Erwachsene ist Deutschland nur Mittelmaß”) eine zweite Auflage erlebte). Mit ihrer Veröffentlichung ging eine in der öffentlichen Diskussion nicht beachtete kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung einher, über das sich das PISA-Verständnis von Bildung gut rekonstruieren lässt. PISA liegt ein funktionalistisches Bildungsverständnis zu Grunde: Bildung ist kein Selbstzweck, kein Mittel der Selbstverwirklichung sondern dient der praktischen, alltäglichen Lösung von Problemen. Das gemessene Konstrukt – literacy – wird definiert als: “Using printed and written information to function in society, to achieve one’s goals, and to develop one’s knowledge and potential.” (Murray 1998) Diese Art von Bildung ist der OECD nach wichtig, da sie als wichtiges Leistungsmerkmal von Volkswirtschaften verstanden wird: “In recent years, adult literacy has come to be seen as crucial to the economic performance of industrialized nations.” Kritiker werfen IALS (und PISA) daher vor, dass nur ein sehr beschränktes, ökonomistisches, Verständnis von Bildung zu Grunde gelegt wird (Hamilton 2000). Literacy im Sinne von IALS ist eine Art von Fähigkeit, die in westlichen, stark marktförmig orientierten Gesellschaften benötigt wird und daher auch vorwiegend von Personen beherrscht, die innerhalb eines solchen Kontextes operierten (Street 2000: 8). Diese Kritik wird von den Autoren auch nicht bestritten. So wird das schlechte Abschneiden Polens in der IALS Studie damit begründet, dass es “may reflect the changing economic situation there, as these scales represent a type of literacy likely to be more common in a fully market-oriented society” (Kirsch 1995: 53).

Damit wird deutlich: PISA interessiert nicht, ob die gemessenen Fähigkeiten für die Leute tatsächlich von Bedeutung sind. PISA legt fest, dass es ökonomisch relevante Fähigkeiten sind, die heute wichtig sein sollen. Graff (2000) wirft den Autoren von diesem Hintergrund einen “naiven Ökonomismus” vor. Und natürlich wäre eine andere Konzeption von Bildung denkbar: Wie wäre es, wenn PISA einmal die Fähigkeit zu kritischem Hinterfragen und damit demokratisches Bildungsverständnis messen würde?

Ist das PISA-Messkonzept problematisch? Wissenschaftler würden sagen: nein, denn es ist klar dokumentiert und Wissenschaftler wissen mit welchem Konstrukt sie arbeiten. Aber wissen sie das wirklich? Und viel wichtiger: PISA hat wenig wissenschaftlich neue Erkenntnisse generiert. Der impact von PISA war vor allem politischer Natur. Über Länderrankings ist ein internationaler Wettbewerb entstanden, welches Land die besten PISA-Ergebnisse produziert. Das bedeutet aber: Es ist ein Wettbewerb darum entstanden, welches Land am meisten ökonomisch verwertbares Wissen produziert. Die OECD hat Bildung nicht pragmatisch und wertneutral definiert, sondern dafür gesorgt, dass das ökonomisch-produktivistische Bildungsverständnis zum dominanten Bildungsverständnis wird.

Thus a process of imposition and cultural colonisation takes place, one that is veiled in the discourse of neutrality and objectivity. (Gomez 2000).

Ich halte es für schade, wie unkritisch politische Akteure aller (!) politischen Lager sich das Bildungsverständnis der OECD zu eigen gemacht haben und im international PISA Cup mitfiebern. Journalisten und Kritiker sollten sich trauen auch einmal zu schreiben: Ich halte das in PISA gemessene Wissen für uninteressant. Ich fiebere nicht mit den deutschen Schüler_innen im Wettbewerb mit und stelle statt dessen mal wieder die altmodische, normative und nicht evidenzbasierte, dafür aber politische Frage: Welches Bildungssystem wollen wir?

Literatur

Hamilton, Mary und David Barton (2000). »The International Adult Literacy Survey: What does it really measure?« In: International Review of Education 46.5, S. 377–389.

Kirsch, Irwin u. a. (1995). Literacy, Economy and Society. Results of the First International Adult Literacy Survey. Ottawa, Paris: Statistics Canada.

Murrayy, T. Scott, Irwin S. Kirsch und Lynn B. Jenkins, Hrsg. (1998). Adult Literacy in OECD Countries. Technical Report on the First Adult Literacy Survey. Washington, DC: U.S. Department of Education. Office of Educational Research und Improvement.

Street, Brian V. (2000). »Literacy, Economy and Society: A Review«. In: Working Paper on Literacy 1.1, S. 5–13.

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