Wie hier angekündigt, beschäftige ich mich in einer Reihe von Postings kritisch mit Teilen der aktuellen Sozialwissenschaften. Nämlich solcher, die allgemein als “positivistisch” bezeichnet werden kann und von sich in Anspruch nimmt, — analog zu den Naturwissenschaften — allgemeingültige Gesetze (heute auch gerne: “Mechanismen”)
herausarbeiten zu wollen. In weiten Teilen kann die Sozialwissenschaft, die einen solchen Anspruch erhebt, gleichgesetzt werden mit quantitativer Forschung, die Zusammenhänge mit Hilfe statistischer Methoden untersucht.
Positivistische und hermeneutische Ansätze
Es geht also um den alten Streit zwischen positivistischen und historisch-hermeneutischen Wissenschaften, der — inzwischen selbst historisch geworden — in Deutschland unter dem Label “Positivismusstreit” ausgetragen, aber nie zu Ende diskutiert wurde. Bis heute gilt, was Jürgen Habermas bereits 1967 (Erstveröffentlichung) feststellte:
Jedes Vorlesungsverzeichnis belehrt über diese faktische Aufspaltung der Wissenschaften […]. Der fortdauernde Dualismus, den wir in der Forschungspraxis wie selbstverständlich hinnehmen, wird im Rahmen der Logik der Forschung nicht mehr diskutiert. Er wird auf der Ebene der Wissenschaftstheorie nicht ausgetragen; er findet bloß seinen Ausdruck im Nebeneinander von zwei Bezugssystemen. (Habermas 1984)
Weit davon entfernt, zu diesem alten Streit Neues hinzufügen zu können, muss heutige Kritik viel weiter vorne anfangen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es den “Positivismusstreit” überhaupt gab, dass er nie “entschieden“ wurde und damit weiter aktuell ist: Bis heute muss es als ungeklärt betrachtet werden, ob die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften überhaupt im Sinne der Naturwissenschaften erklären können. Da das Thema in den Vorlesungen heute kaum mehr diskutiert wird, ist es den meisten Studierenden, Doktoranden und — zunehmend leider auch — immer mehr Professor_innen nahezu unbekannt. Für quantitativ forschende Doktoranden und Professoren hat es die Bedeutung von “da war mal was, das ist aber für meinen Forschungsalltag irrelevant”. Die beiden Forschungsrichtungen ignorieren sich fleißig, wobei die Positivisten den Kampf längst gewonnen haben. Nicht auf der Ebene besserer Argumente, sondern auf der Ebene von Forschungsgeldern, Lehrstühlen und Medienaufmerksamkeit. In Zeiten gestraffter BA-Studiengänge fangen die meisten Studierenden schneller an zu rechnen, als sie sich überhaupt fragen können, was sie da rechnen. In meinen VWL-Vorlesungen als Student wurden Prämissen in wenigen Minuten gesetzt, und dann ging es ans Rechnen in die Modelle. Als Dozent fällt mir das nun immer häufiger auf, wenn die Studierenden “erklären” mit “signifikanter Korrelationskoeffizient” und “forschen” mit “quantitative Datenanalyse betreiben” gleichsetzen.
Kategorien in den Natur- und Sozialwissenschaften
Aber zurück zum Problem. Was ist das Problem einer ver-Naturwissenschaftlichung der Sozialwissenschaften? Das Hauptproblem liegt m.E. in dem Umgang mit Kategorien. Naturwissenschaftliche Kategorien (Moleküle, Schallwellen, Atome oder was auch immer) verhalten sich unter gleichen Bedingungen stehts gleich (Naturwissenschaftler dürfen mich hier gerne korrigieren). Die Bedeutung der Kategorie ändert sich nicht. Naturwissenschaftliche Ergebnisse lassen sich daher gut reproduzieren; ein induktives Vorgehen der Forschung macht Sinn. In den Sozialwissenschaften sieht die Situation grundlegend anders aus. Kategorien in den Sozialwissenschaften lauten beispielsweise: Armut, Bildung, Wirtschaftswachstum, soziale Herkunft, Migrationshintergund etc. pp. Solche Kategorien sind gesellschaftliche Konstrukte. Bei einigen dieser Kategorien ist ihr Konstruktcharakter offensichtlich: dass sich permanent ändert, was Gesellschaft und Wissenschaftler unter “Armut” und “Bildung” verstehen ist unmittelbar zugänglich. Bei anderen Kategorien — und das sind häufig solche, die näher an der Biologie sind — ist der Konstruktionscharakter dem Laien oft schwieriger klar zu machen. So ist das Geschlecht (Gender) eine gesellschaftliche Konstruktion (was “weiblich” aussieht ändert sich ebenso wie die gesellschaftlichen Positionen und Rollen, die Frauen zugeschrieben und von Frauen besetzt werden), ebenso medizinische Begriffe wie Demenz oder Depression. Sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft werden permanente Deutungskämpfe darüber ausgetragen, wer als dement, depressiv und arm gilt; das Verständnis von solchen Begriffen ändert sich in überraschend kurzer Zeit oft gewaltig. Geschichtsblinde, quantitative Wissenschaft ignoriert diese Tatsache allzu oft. Wer das nicht glaubt, oder wem das nebensächlich erscheint, dem sei zunächst ein Blick in die “Geschichtlichen Grundbegriffe” (Conze 1972-1992) empfohlen.
Die grundlegende Erkenntnis konstruktivistischer Ansätze ist nun, dass gesellschaftlich das wahr ist, was Menschen für wahr halten. Es gibt kein Wesensmerkmal (oder keine Idee wie bei Platon) über die sich naturwissenschaftlich exakt definieren lässt, was “arm” bedeutet. Ein Armer wird dann zum Armen, wenn die Gesellschaft ihn als arm kategorisiert und diesen Zustand als veränderungswürdig auffasst (Simmel 1958). Genauso verhält es sich mit Demenz und Depression. Dement ist eine Person, wenn Ärzte und Gesellschaft sie als dement eingeordnet haben (es gibt Gesellschaften, in denen Personen, die wir als dement bezeichnen würden, als Heilige verehrt werden).
Soweit, so gut. Alles ist konstruiert. Was folgt nun daraus? Es folgt daraus, dass sich ein Armer (im großen Unterschied zum nach unten fallenden Stein) nicht immer gleich verhält. Sowohl seine Eigenschaften varieren zwischen Zeiten und Orten (Bildungsniveau, Ernährungsstatus etc.) als auch die Reaktionen, die er hervorruft (Mitleid, Verehrung, private Fürsorge oder staatliche Unterstützung). Seine Bedeutung im Verhältnis zu Anderen und der Gesellschaft als Ganzes verändert sich permanent; Menschen reagieren anders auf ihn, und die Gesellschaft wirkt anders auf ihn zurück. Aus diesem Grund funktionieren mechanistische Erklärungen nur beschränkt: Armut lässt sich nur äußerst unzureichend über die Verbindung von sozialer Herkunft und geringer Bildung “erklären”. Die Verbindung von Schwerkraft und Stein mag immer zum gleichen Ergebnis führen. Die Interaktion von Bildung, materieller Armut und sozialer Herkunft kann dagegen zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Kontexten etwas vollkommen anderes bedeuten. Sozialwissenschaft muss sich daher der wandelbaren Bedeutung ihrer Kategorien im historischen Kontext bewusst sein und dieser Rechnung tragen. Genau aber das ist der quantitativen Sozialwissenschaft systematisch nicht möglich. Gerade die zur Zeit als “Kausalerklärungen” gehypten Längstschnittstudien gehen implizit davon aus, dass sich die Bedeutung einer Kategorie nicht wandelt. Korrelationskoeffizienten (meist in abstruser mehrstelliger Genauigkeit angegeben) suggerieren dann eine wissenschaftliche Exaktheit im Zusammenhang zwischen diesen Kategorien, die — haben wir uns einmal klar gemacht, dass Kategorien das Ergebnis gesellschaftlicher Deutungskämpfe sind — vollkommen unangemessen ist.
Eine quantitative Studie kann vor diesem Hintergrund nicht viel mehr leisten als aufzuzeigen, was zu erklären ist (Explanans): Der Zusammenhang zwischen Armut, sozialer Herkunft und Bildungsniveau stellt sich zum Zeitpunkt X in Gesellschaft Y so und so dar. Warum das so ist, dazu können statistische Verfahren wenig sagen. Damit sage ich nichts Neues: in jeder Einführungsveranstaltung wird darauf hingewiesen, dass Korrelationen keine Kausalität und keine Erklärung darstellen. Wer aber die Forschungspraxis kennt, der weiß, dass das meist ein bloßes Lippenbekenntnis bleibt: in den Kolloquien quantitativer Sozialforscher wird mit ad-hoc Erklärungen zur Erklärung bereits gefundener statistischer Zusammenhänge oft nur so um sich geworfen.
Folgen für die Forschung
Problematisch ist nun, dass sich die positivistisch-quantitative Sozialwissenschaft aufgrund ihrer hegemonialen Stellung nicht mehr begründen muss. Es reicht aus, vorsichtiger zu formulieren und die “Probleme zu benennen” statt sie zu lösen. Die Implikationen werden nicht systematisch reflektiert, Kritik hat keine Rückwirkungen auf die Forschungspraxis. Das reicht aber nicht aus, um Studierenden und Medien eine kritische Distanz zu quantitativen Forschungsergebnissen nahezubringen. Korrelationen werden mit Kausalität gleichgesetzt und die nachgereichten ad hoc Begründungen in der Öffentlichkeit als exakte wissenschaftliche Erkenntnisse rezipiert.
Damit verfängt sich die positivistische Sozialwissenschaft in ihrem szientistischen Weltbild und vergisst, dass sie ihre Vorraussetzungen (wie Prämissen, Kategorien und Methoden) nicht aus ihrem eigenen Ansatz selbst herleiten kann. Zur Bildung von Kategorien muss nach wie vor auf hermeneutische, “verstehende” Verfahrensweisen zurückgegriffen werden. Gleiches gilt für Erklärungen. Der aktuell so populäre Ruf nach “mechanismischen” Erklärungen ist nichts anderes als die sich durchsetzende Erkenntnis, dass der Forschungsmainstream ein ernstzunehmendes Erklärungsproblem hat. Erneut: Korrelationen zwischen Individualmerkmalen erklären nichts, sie beschreiben. Wer nach brauchbaren Erklärungen sucht — bleiben wir beim Zusammenhang von Armut, Bildung und sozialer Herkunft — der findet die elaboriertesten Ansätze in der qualitativen Forschung. Und damit zeigt sich, dass gerade zum Erklären (also dem wichtigsten Ziel der Positivisten!), auf hermeneutische Verfahren zurückgegriffen werden muss. Diese werden aber nun, da sie ohne Quantifizierungen auskommen und nur mit beschränkten Verallgemeinerungen arbeiten, vom quantitativen Mainstream fleißig ignoriert.
Das produziert ein ernstzunehmendes Problem. Denn Kategorien müssen weiter gebildet werden; und erklärt werden muss sowieso. Statt aber die Reflexionsfähigkeit hermeneutischer Ansätze zu nutzen, verfängt sich die quantitative Forschung zunehmend in Kategorien und Erklärungen die unreflektiert, ad hoc, eingeführt werden. Ihre Lieblingsbeschäftigung besteht in der permanenten Optimierung stochastischer Methoden. Das ist erstmal nichts negatives, nur: ein großer Teil quantitativer Forschung würde durch ein kontinuierliches in-Frage-stellen der eigenen Ansätze und verwendeten Kategorien sehr viel mehr gewinnen. Der Mehrwert durch einen noch eleganter korrigierten Standardfehler ist dagegen gering zu veranschlagen. Er dient vor allem dazu, die Ergebnisse noch “wissenschaftlicher” aussehen zu lassen.
Literatur
Werner Conze, Otto Brunner und Reinhart Koselleck, Hrsg. (1972-1992). Geschichtliche Grundbegriffe. Historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart: Klett-Cotta
Jürgen Habermas (1984). Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main:Suhrkamp
Georg Simmel (1958). “Der Arme”. In: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker & Humblot. Kap. 7, S. 345–374