Sozialwissenschaftliche Kategorien II

Hier nun ein weiterer Beitrag zur Kritik der Sozialwissenschaften, insofern sich diese als naturwissenschaftlich-exakte Wissenschaften darstellen wollen. Diesmal zur Ökonomik, die ja — mensch vergisst es leicht — immer noch eine Sozialwissenschaft ist.

Zur Normativität der Wirtschaftswissenschaft

Wohl bester Adressat für die hier vorzutragende Kritik ist die Ökonomik. Wirtschaftswissenschaft ist (heute leider nicht mehr selbstverständlich) eine Sozialwissenschaft. Und wie keine andere Sozialwissenschaft nimmt sie für sich in Anspruch, mathematisch-naturwissenschaftlich exakte Ergebnisse zu produzieren und auf Grund ihrer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit sichere Lösungen und Handlungsempfehlungen an die Politik herantragen zu können. Dabei ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit enorm. Die Wirtschaftswissenschaft hat ordentlich versagt die Finanzkrise vorherzusehen, auch Lösungen hat sie kaum anzubieten. Die Diskussionen beschränken sich auf den uralten Dissenz zwischen keynesianischen und monetaristischen “Lösungen”, die grundlegenden Probleme der Wirtschaft (und der wirtschaftswissenschaftlichen Methode) werden nicht diskutiert. Auch zum Umgang mit der weltweit krass ansteigenden ungleichen Vermögensverteilung hat sie erstaunlich wenig zu sagen. Dieser Zustand hat in der letzten Zeit zu einer Reihe von offenen Briefen geführt (z.B. hier http://brief.plurale-oekonomik.de/) die aber kaum auf Resonanz gestoßen sind. Nach wie vor sind WiWi-Lehrstühle in Deutschland fast ausnahmslos neoklassisch besetzt.

Während des Studiums hatte ich in einem Seminar eine längere Diskussion über die Normativität der Wirtschaftswissenschaften. Gerade bin ich auf meinen damals entstandenen Artikel gestoßen. Der Dozent (zu 95% kritischer Rationalist, wie er sich selbst beschrieb) argumentierte, dass die Annahmen der Wirtschaftswissenschaften (wir diskutierten primär über die handlungstheoretische Fundierung, den Homo Oeconomicus) wertfreie theoretische Annahmen darstellen würden. Diese seien potentiell falsifizierbar und könnten vor diesem Hintergrund kritisiert werden, es handele sich aber niemals um normative Aussagen, also Aussagen darüber, wie etwas sein solle.

Ich argumentierte dagegen. Natürlich sei die Ökonomik hochgradig normativ. Meine Argumentation ging ungefähr so:

  1. Der Ökonomik ging es nie nur ums erklären, sondern immer auch darum, wirtschaftspolitische Empfehlungen abzugeben
  2. Diese Empfehlungen leitet sie aus ihrem theoretischen Grundgerüst her
  3. Dieses Grundgerüst besteht im wesentlichen aus dem Homo Oeconomicus (H.O.), der unter gegebenen Restriktionen (Handlungsbedingungen oder einfach gesellschaftliche Rahmenbedingungen) rational nutzenmaximiert handelt.
  4. Aus diesen Rahmenbedingungen werden dann Empfehlungen abgeleitet, meistens mit dem Ziel, Märkte (im weiteren Sinne) effizienter zu gestalten
  5. Ein Beispiel könnte sein: “Wir müssen das Grundsicherungsniveau senken, damit es für die Individuen rationaler wird auch schlechtbezahlte Arbeit anzunehmen, und so können wir die Arbeitslosigkeit senken”

Damit glaubte ich die Ökonomische Theorie zweier Werturteile überführt zu haben. Zum einen (1) ist das Ziel der Empfehlungen Effizienz, und dass Effizienz etwas Erstrebenswertes darstellt, sei bereits ein Werturteil. Zum anderen (2) werde aus der vermeintlich wertfreien H.O.-Annahme eine normative Forderung, wenn nämlich Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass sie dann, und nur dann, zu Effizienz führen, wenn Menschen als Homines Oeconomici agieren. Dann werde nämlich die Gesellschaft so gestaltet, dass sie rationales, eigeninteressiertes H.O.-Verhalten bestärke. Die aus der H.O.-Annahme hervorgegangenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen funktionieren ja nur, wenn Menschen sich auch tatsächlich so verhalten, wie es die ökonomische Theorie postuliert. So werde — entsprechend meiner Argumentation — aus der deskriptiven (beschreibenden) Aussage “der Mensch handelt wie ein Homo Oeconomicus” die präskriptive (soll-)Aussage “der Mensch soll wie ein Homo Oeconomicus handeln”.

Ich konnte damals einfach nicht verstehen, warum mein Dozent diese doch so überzeugende Argumentation nicht teilen konnte. (Insbesondere die Argumentation über das zweite Werturteil (2) — dass die Effizienzforderung ein Werturteil ist und stärker reflektiert werden sollte, kann kaum jemand ernsthaft bestreiten.)

Mein Denkfehler war aber folgender: Ich akzeptierte die simple Unterscheidung zwischen präskriptiven (soll-) und deskriptiven (seins-)Sätzen. Hatte ich erst einmal diese Prämissen meines Gesprächspartners akzeptiert, so musste meine Argumentation ins Leere laufen. Dann nämlich ist die handlungstheoretische H.O.-Annahme nichts anderes als eine wissenschaftliche Hypothese. Wenn sich diese als falsch, nämlich nicht erklärungskräftig, herausstellt, so muss sie verworfen oder modifiziert werden (und inzwischen wurde sie so stark modifiziert und aufgeweicht, dass sie alles und nichts erklären kann, aber das ist hier nicht Thema). Sie kann also als falsch oder nicht-erklärungskräftig kritisiert werden, sie ist aber nicht normativ. Und wenn der Ökonom aus ihr eine wirtschaftspolitische Handlungsempfehlung ableitet, so verwandelt er sie damit noch lange nicht in eine normative Aussage. Normativ ist schlicht die Politikempfehlung, aber das sind Politikempfehlungen immer, dafür brauchte es meine umständliche Argumentation nicht.

Wie aber nun die ökonomische Theorie kritisieren? Ist es nicht offensichtlich, dass sie eine wünschenswerte Weltordnung konstruiert, die wir nicht teilen, die aber so wirkungsmächtig ist, dass sie normative Wirkung entfaltet? Um hier Kritik üben zu können, reicht es nicht — wie ich es damals getan habe — nur zwischen deskriptiven und präskriptiven Sätzen zu unterscheiden. Poststrukturalistische Machttheorien (Foucault, Laclau und Mouffe u.a.) haben hierzu einiges mehr zu sagen. Macht wird demnach vor allem darüber ausgeübt, was im Diskurs sagbar und was nicht sagbar ist. Aus einer solchen Sichtweise heraus lässt sich auch die künstliche Trennung zwischen dem Wissenschaftssystem (das nach wahr-falsch codiert ist) und anderen gesellschaftlichen Subsystemen nicht mehr aufrecht erhalten. Die Ökonomik ist (vermutlich sehr viel stärker als andere Gesellschaftswissenschaften) Teil eines umfassenden hegemonialen Diskurses, über den es gelingt, Interessen der Kapitalbesitzer als Interessen der Allgemeinheit darzustellen. Durch ihre Grundannahmen trägt die ökonomische Theorie in erheblichem Maße dazu bei, was gesagt werden kann und was nicht. Kategorien und Grundannahmen der Ökonomik werden permanent diskursiv in-Wert-gesetzt, sind also Teil des Sagbaren im Diskurs, während nicht-ökonomische Kategorie an den Rand gedrängt und nicht diskutiert werden. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es entstammt der ökonomischen Wissenschaft, ist aber längst ein handlungsleitendes Konzept der Politik geworden. Gute Politik ist solche, die das BIP wachsen lässt (und nicht solche, die den nicht-materiellen Wohlstand steigert). Sich hier als Ökonom auf seine vermeintliche Werturteilsfreiheit zurückzuziehen ist schlicht naiv. Gleiches gilt für den Homo Oeconomicus. Dieser kann nicht nur als theoretische wissenschaftliche Annahme aufgefasst werden, sondern er ist zugleich Teil des allgemeinen Diskurses über die Natur des Menschen.

Brauchbare Kritik einer solchen Richtung kommt insbesondere aus der feministischen Ökonomik. Diese argumentiert, dass im ökonomischen Begriffsapperat nur das vorkommt und in-Wert-gesetzt wird, was männlicher, produktiver Erwerbsarbeit entspricht. Mindestens ebenso wichtige produktive Tätigkeiten wie die weibliche Reproduktivität oder die Reproduktivität der Natur werden zwar als vermeintlich unendlich verfügbar voraussgesetzt, kommen aber in den ökonomischen Theorien nicht vor und bleiben außerhalb des ökonomischen Diskurses — konträr zu ihrer tatsächlichen Wichtigkeit für die Ökonomie. Dazu mehr im nächsten Eintrag.

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