Die 4. degrowth-Konferenz letzte Woche in Leipzig war ein großer Erfolg, und das Wachstum der Postwachstums-Konferenz auf 3000 Teilnehmer_innen beeindruckend… Der folgende Beitrag spiegelt einige meiner inhaltlichen Überlegungen nach der Konferenz wieder.
Ich möchte hier ein auf der Konferenz stark vertretenes und für mich zentrales Thema — die feministische Kritik an der gegenwärtigen ökonomischen Theorie und Praxis — aufgreifen und weitergehend diskutieren. Ich halte die hier darzustellende Kritik für absolut zentral, bin mir aber nach wie vor sehr unsicher, welche Schlussfolgerungen im Hinblick auf die politische Praxis zu ziehen sind.
Die Kritik: “Externalisierung als Prinzip”
Adelheid Biesecker und Sabine Hofmeister (2010) machen ihre Kritik primär am Begriffsapparat der ökonomischen Theorie fest. Um es hier verkürzt, und möglicherweise nicht ganz korrekt wiederzugeben: Produktivität in der ökonomischen Theorie findet sich, wenn Produktionsfaktoren (Arbeit, Boden, Kapital) zur Herstellung von Gütern für den Markt verwendet werden. Dabei ist es unerheblich, ob alle Produktionsfaktoren betrachtet werden, oder — wie bei Marx — nur Arbeit als produktiv angesehen wird. Entscheidend ist, dass Güter in Betrieben produziert um dann auf dem Markt gehandelt zu werden (insofern trifft die Kritik auch auf marxistische Ökonomen zu). Die Produktionsfaktoren (im Folgenden beschränke ich mich auf den Produktionsfaktor Arbeit, bzw. heute: Humankapital) werden entsprechend ihrer Produktivität entlohnt, beispielsweise durch unterschiedlich hohe Löhne und Gehälter. Diese Entlohnung hat nun gleichzeitig eine nicht zu unterschätzende soziale Komponente: durch die Entlohnung (und andere Belohnungssysteme wie Dienstwagen, Karrieremöglichkeiten etc.) wird die produktive Arbeit im Betrieb permanent in-Wert-gesetzt: Über das monatliche Gehalt auf unserem Konto können wir uns und andere vergewissern, dass wir einer wichtigen und gesellschaftlich notwendigen Arbeit nachgehen.
Zur Herstellung von Gütern sind nun aber auch noch andere Arten der Produktivität notwendig, die von Biesecker/Hofmeister als weibliche und Natur-Reproduktivität bezeichnet werden.
- Weibliche Produktivität bezieht sich darauf, dass Arbeitskräfte geboren, aufgezogen, ernährt etc. werden müssen. Diese Form der Reproduktivität bezieht sich also auf ein weites Arsenal von Tätigkeiten, die oft unter dem Begriff care-Tätigkeiten zusammengefasst werden. Weiblich sind diese Tätigkeiten insofern, als dass sie nach wie vor zum allergrößten Teil von Frauen in privaten Haushalt geleistet werden.
- Natur-Reproduktivität bezieht sich auf natürliche Kreisläufe und die Regeneration des Ökosystems, die notwendigerweise funktionieren müssen, damit überhaupt produziert werden kann.
Es lässt sich nun kaum leugnen, dass diese beiden Formen der Reproduktivität unweigerlich in jedes Produkt einfließen. Um beispielsweise Brot zu produzieren, reicht es nicht aus, dass der Bäcker in der Backstube Sauerteig anrührt. Er war in seiner Kindheit auf die Fürsorge anderer angewiesen; und auch der erwachsene Bäcker muss Essen einkaufen und zubereiten, Hygiene und Gesundheitspflege betreiben, ausreichend schlafen etc. um weiterhin seiner Arbeit nachgehen zu können. Das zu verarbeitende Getreide wiederum ist darauf angewiesen, dass es ausreichend regnet, der Boden sich regeneriert etc.
Die ökonomische Theorie ignoriert diesen Sachverhalt nun komplett und betrachtet in ihren Modellen lediglich die Produktion auf dem Arbeitsmarkt. Natur- und weibliche Reproduktivität bilden zwar die unabdingbare Voraussetzung jeglicher Produktion, werden aber als im Prinzip unendlich vorhanden vorausgesetzt und nicht weiter betrachtet. Profite lassen sich steigern indem Tätigkeiten die vormals auf dem Arbeitsmarkt entlohnt wurden in den privaten — nicht-entlohnten — Bereich verlagert werden. Perfektioniert wird dies heute möglicherweise von den ein-Personen-Selbstständigen der Kreativindustrie, die Selbstausbeutung betreiben indem sie “die Ressourcen privater Lebensführung zwangsläufig und planmäßig einkalkulier[en] und damit die Grenzen zwischen Arbeit nicht nur zeitlich und räumlich, sondern auch materiell und sozial verwisch[en]” (Gottschall und Voß 2003, 18). Profite im Kapitalismus beruhen damit grundsätzlich auf der Ausbeutung dieser nicht-entlohnten Produktivität, also der Ausbeutung der Natur und der Ausbeutung von Frauen. Diese Verlagerung von produktiven Tätigkeiten in den nicht entlohnten Bereich ist es, was Adelheid Biesecker als “Externalisierung als Prinzip” bezeichnet.
Die ökonomische Theorie und Praxis trennt also systematisch bestimmte produktive Tätigkeiten in den nicht-ökonomischen Bereich ab. Diskurstheoretisch gesprochen werden reproduktive Tätigkeiten in den Bereich des nicht-Sagbaren verdrängt. Da innerhalb des hegemonialen ökonomischen Diskurses keine Begriffe für den reproduktiven Bereich existieren, kann dieser auch nicht als wichtiger ökonomischer Faktor diskutiert und sozial organisiert werden. So werden zentrale Teile gesellschaftlicher Produktivität systematisch ausblendet und gesellschaftlich unsichtbar gemacht sowie Ausbeutungsstrukturen verdeckt. Biesecker und Hofmeister sehen in dieser Abtrennung des Reproduktiven eine zentrale Ursache für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Die derzeitigen Krisen seien vor allem eine Krise des Reproduktiven, die sich beispielsweise in Pflegenotstand (Krise weiblicher Reproduktionsarbeit) und Klimakatastrophe (Natur-Reproduktivität) zeigt.
Ein Beispiel
Auf der espanet-Konferenz letztes Jahr in Poznan analysierte der bekannte Sozialpolitik-Forscher Jon Kvist “The gender dimension of social investment strategies in Europe”. Seine Argumentation ging ungefähr so (und diese Ansicht ist unter Sozialpolitik-Forschern sehr konsensfähig…):
1.) Die Sozialkassen sind leer, weil zu wenig Beiträge eingezahlt werden.
2.) Die Beiträge müssen steigen, was durch quantitatives und qualitatives (höhere Löhne) Wachstum im Beschäftigungssektor zu erreichen ist.
3.) Das größte Wachstumspotential liegt in der weiblichen Bevölkerung, da die Erwerbsquote bei weitem nicht so hoch ist wie bei Männern und Frauen oft schlechter qualifizierten und damit schlechter bezahlten Arbeiten nachgehen.
4.) Es muss also vor allem in die Ausbildung und Beschäftigung von Frauen investiert werden, um hier Wachstum zu generieren und die Sozialsysteme zu entlasten.
Ich halte diese Argumentation für wunderbar, um zu zeigen, wie der enge ökonomische Begriffsrahmen systematisch Denk- und Handlungsmöglichkeiten versperrt. Für Kvist ist nur Arbeit wertschöpfend, die auf dem Arbeitsmarkt geleistet wird. Er übersieht in seiner Analyse vollkommen, dass in den Haushalten bereits wichtige care-Tätigkeiten geleistet werden und dass diese eben nicht unendlich verfügbar sind. Damit sieht er auch nicht, dass ein Wachstum der gesamtgesellschaftlichen Arbeitszeit (so ja seine Idee) dazu führt, dass weniger dieser Tätigkeiten außerhalb des Arbeitsmarktes geleistet werden können und somit vermutlich wiederum die Nachfrage nach staatlich oder privatwirtschaftlich organisierten Angeboten steigen wird. Womit wiederum die Kosten der Sozialsysteme steigen und die Mehreinnahmen wieder aufgebraucht werden… Kvist bietet also weniger eine Lösung an, als dass er ein starkes Werturteil impliziert, das ungefähr so lautet: “Care-Arbeit soll weniger selbstorganisiert und in privaten Haushalten geleistet werden und statt dessen auf dem Arbeitsmarkt professionell angeboten werden”. Es geht also um die so zentrale Frage, wie unsere Gesellschaft notwendige reproduktive Tätigkeiten organisieren will. Diese Frage wird aber nicht gestellt, sondern hinter einer vermeintlich rational-werturteilsfreien ökonomischen Argumentation versteckt.
Ein Beispiel, wie sich sicherlich unendlich viele finden.
Schlussfolgerungen für die Wissenschaft: die Kategorie der (Re)Produktivität
Die hier zitierten Autorinnen fordern vor dem Hintergrund ihrer Kritik die Einführung einer umfassenden Kategorie der (Re)Produktivität, mit der die geleisteten ökonomischen Tätigkeiten außerhalb des Betriebes wieder in den Blick kommen sollen. Diese Begriffseinführung sei aber nur übergangsweise zu verstehen: in der anzustrebenden Gesellschaft, in der die beschriebene Trennung der beiden Produktionssphären aufgehoben sei, wird alles als “produktiv” aufgefasst. Die Forderung setzt damit unmittelbar an der Kritik an, die sich ja vor allem an der ökonomischen Theorie abarbeitet: Ökonomen, nehmt endlich auch produktive Tätigkeiten, die außerhalb des Marktes geleistet werden in den Blick! Integriert diese in eure Modelle und in euren Begriffsapparat! Dem ist natürlich absolut zuzustimmen. Dennoch habe ich einige Einwände und bin mir sehr unsicher, ob die Kategorie der (Re)Produktivität geeignet ist.
Zum einen muss eine sozialwissenschaftliche Kategorie einen Gegenstand trennscharf beschreiben können. Die Autorinnen bleiben aber die Antwort schuldig, was ihrem umfassenden Verständnis nach überhaupt noch nicht-produktive Arbeit ist. Zwar schüttelte Prof. Biesecker vehement den Kopf, als ich nach ihrem Vortrag fragte, ob jetzt auch Erholung (Schlafen) als Produktivität verstanden werden müsse. Dennoch, meine Kritik bleibt bestehen: Schlafen ist definitiv eine Tätigkeit, die der Reproduktion der Arbeitskraft dient und müsste daher in ihrer Logik als produktive Tätigkeit gefasst werden. Ich halte aber einen so weiten Begriff, der zumindest die allermeisten Tätigkeiten des Tages umfasst, für viel zu breit, um noch von analytischem Nutzen zu sein.
Zum anderen muss ein sozialwissenschaftlicher Begriff meiner Ansicht nach an gesellschaftliche Wirklichkeiten anschlussfähig sein. Zwar betont Adelheid Biesecker immer wieder, dass die Trennung von Produktion und Reproduktion in der physischen Sphäre keine Entsprechung habe. Diese Aussage kann sie aber nur als “reine” Ökonomin treffen: auf der stofflichen Ebene ist es unbestreitbar, dass (weibliche) Reproduktionsarbeit in die Produktion von Gütern mit einfließt. Als Soziologe muss ich aber darauf beharren, dass gesellschaftliche Wirklichkeit permanent diskursiv konstruiert wird. Die Trennung von Produktion und Reproduktion ist real, weil sie von den Leuten als real erlebt wird. Ich denke nicht, das kritische Ökonomen irgendwie anschlussfähig sind, wenn sie nun mit der Kategorie (Re)Produktivität hantieren. Zielführender scheint mir zunächst Forschung zu sein, die die Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre als zu erklärendes Konstrukt auffasst. Wenn die Art von Tätigkeiten, die wir heute als produktiv – und damit unser Begriff von “Arbeit“ — ein historisch spezifisches gesellschaftliches Konstrukt darstellen, so kann dieser Begriff geschärft werden, in dem die Trennungsgeschichte der beiden Bereiche geschrieben wird. Kritik an der Trennung reicht also nicht aus, notwendig ist darüber hinaus ein besseres Verständnis davon, wie sich die Trennung der beiden Lebensbereiche durchsetzte, wie sie aufrecht erhalten wurde, und aus welcher Dynamik zwischen kapitalistischer Systemlogik und lebensweltlichen Anpassungs- und Überlebensstrategien sie sich erklären lässt.
Die bei Biesecker/Hofmeister im Fokus stehende begriffsgeschichtliche oder diskursive Ebene ist wichtig, da ökonomische Theorie niemals nur Gesellschaft beschrieben hat, sondern die ökonomische Struktur immer auch ihren Vorstellungen entsprechend geformt hat. Dennoch: ein veränderter wirtschaftswissenschaftlicher Diskurs wird wenig verändern, solange über die Ausbeutung von reproduktiven Tätigkeiten reale Profite erzielt werden. Die zentrale Frage ist doch: Welche konkreten politischen Schritte führen hin zu einer Gesellschaft, in der alle Formen der Produktivität als gleichwertig anerkannt werden?
Schlussfolgerungen für die politische Praxis?
Im Prinzip gibt es zwei Alternativen (die Argumentation bezieht sich nur auf weibliche, nicht auf Natur-Reproduktivität, da ich erhebliche Probleme habe, letzteres begrifflich zu fassen… für Hinweise bin ich dankbar…). (1) Zum einen könnten reproduktive Tätigkeiten komplett über den Markt organisiert und dort entlohnt werden. (2) Zum anderen könnten Institutionen geschaffen werden, über die reproduktive Tätigkeiten gleichwertig entlohnt werden.
zu 1.) Die erste Variante ist die, auf die wir zur Zeit zusteuern. Das Paradigma moderner Sozialpolitik ist das “individual adult worker model” (Dingeldey 2005: 292), also die Universalisierung der Arbeitsmarktteilhabe. Jeder Erwachsene, egal welchen Geschlechts, soll Vollzeit arbeiten, alle Einkommen werden ausschließlich über den Arbeitsmarkt generiert. Das bedeutet natürlich, dass nicht mehr genug Zeit für reproduktive Tätigkeiten im Privaten verbleibt. Diese Tätigkeiten werden daher zunehmend im Sinne “modernen Konsums” (Welskopp 2014) über den Markt organisiert. Professionelle Kinder- und Altenbetreuung statt Selbstorganisation in der Familie oder sonstigen lokalen Gemeinschaften, Fast Food und Mittagessen gehen statt selbst Kochen, neu-kaufen statt selber-bauen und reparieren, bezahlte Haushaltshilfe etc. pp. Ich halte eine solche “Lösung” für indiskutabel. Sie ist mit Ideen von Postwachstum, Zeitwohlstand und Entschleunigung unvereinbar. Kritisch sehe ich daher auch Spielarten des Feminismus, die Gleichberechtigung auf “gleiche Karrieremöglichkeiten für Frauen” reduzieren. Es kann nicht darum gehen, das männliche Erwerbsmodell zu universalisieren — es müssen neue Wege gegangen werden.
zu 2.) Alternative, nicht-marktförmige Entlohnungssysteme für reproduktive Tätigkeiten werden oft kritisch gesehen, da die reale Gefahr besteht, dass sie — wie das Elterngeld — bestehende Ungleichheitsstrukturen zementieren. Daher ist auch das (von Adelheid Biesecker unterstützte) bedingungslose Grundeinkommen gerade in feministischen Diskussion alles andere als unumstritten. Ich sehe noch ein anderes grundlegendes Problem: Alle unsere Sozialsysteme funktionieren als Korrektiv zu auf dem Markt produzierten ungleichen Verteilungen (das ist die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft). Das bedeutet, dass monetäre Werte ausschließlich auf dem Markt produziert werden und Teile dieser Werte nachträglich umverteilt werden. Damit bleibt der Markt der Umverteilung vorgelagert und damit wird auch marktförmige Tätigkeit als einzige “ursprünglich” wertschöpfende Tätigkeit stets höher wertgeschätzt werden, als reproduktive Tätigkeit, die ja über Umwege wiederum über den Markt finanziert wird. Darüber hinaus werden sich auf dem Markt erfolgreiche Personen gegen Umverteilung wehren. Nicht umsonst ist das deutsche Sozialsystem als lohnarbeitszentriertes Sozialsystem (Vobruba) entstanden, dass auf dem Markt entstandene Ungleichheiten in weiten Teilen lediglich verlängert. Im Kapitalismus wird also reproduktive Tätigkeit niemals der marktförmigen Tätigkeit gleichgestellt werden, sondern stets ein Anhängsel des Marktes bleiben. Daran wird auch ein bedingungsloses Grundeinkommen nichts ändern. Grundeinkommen, Minimal- und Maximaleinkommen, radikale Arbeitszeitverkürzung u.a. sind also lediglich erste Schritte, eine Lösung des Dilemmas ist im Kapitalismus nicht zu erwarten.
Da wir alle in ökonomistischen Diskursen gefangen sind (s.o.) fällt es auch so schwer, sich Alternativen auszumalen. Auf der degrowth diskutierte ich in der GAP (group assembly process) zum Thema social security und degrowth. Ein Teil der Gruppe entwarf ein grobes Konzept eines Sozialsystems in einer Postwachstumsgesellschaft. Dabei blieb die Gruppe aber so stark in Kategorien von Produktion/Reproduktion, nachträglicher Umverteilung, Beitragsfinanzierung etc. verhaftet, dass ich mir sicher war: in einer Postwachstumsgesellschaft muss soziale Sicherheit grundlegend anders organisiert werden!
Literatur
Biesecker, Adelheid und Sabine Hofmeister (2010). “Im Fokus: Das (Re)Produktive. Die Neubestimmung des Ökonomischen mithilfe der Kategorie (Re)Produktivität”. In: Gender and Economics. Feministische Kritik der politischen Ökonomie. Hrsg. von Christine Bauhardt und Gülay Çaglar. Wiesbaden: VS Verlag, S. 51–80
Gottschall, Karin und Günter G. Voß (2003). “Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zur
Einleitung. In: Entgrenzung von Arbeit und Leben”. Hrsg. von Karin Gottschall und
Günter G. Voß. München u.a.: Rainer Hampp Verlag
Welskopp, Thomas (2014). “Moderner Konsum”. Unveröffentlichtes Manuskript. Bielefeld.