Anständige Arbeit, Leistungsgerechtigkeit und dekadente Erben

In ihrem jüngsten Essay im ZEIT-Magazin (11/2015) diskutiert Julia Friedrich die Ungerechtigkeit von Erbschaften. Erbschaften erhöhten, so Friedrich, die soziale Ungleichheit, unterminierten Chancengleichheit und seien gleichzeitig eine schwere Bürde für die Erben, die mit dem unverdienten Geld nicht umgehen könnten, faul und dekadent werden würden. Jens Jessen dekonstruiert Friedrichs Essay in DIE ZEIT (vom 19.3., S. 26) und schlussfolgert aus seinen Überlegungen, dass Erbschaften ganz im Gegenteil die Gesellschaft sogar humaner machten. Beide haben unrecht.

Warum findet Julia Friedrich Erbschaften so himmelschreiend ungerecht? Weil diese nicht auf eigener Leistung und ehrlicher Arbeit beruhten und somit unverdient seien. Friedrich reproduziert damit in ihrem Essay die moderne Erzählung von Leistungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und ehrlicher Arbeit. Dies geschieht durch eine Vielzahl von Zitaten von nicht-Erben (aber auch Erben!), die allesamt der Meinung sind, dass jeder und jede sich den eigenen Wohlstand legitimerweise nur durch anständige, harte Arbeit verdienen dürfe. Continue reading

Arbeit und Wachstum — begriffsgeschichtliche Hintergründe

Die derzeitige Organisation der Erwerbsarbeit ist ein Wachstumsmotor. Ich meine damit mehr, als dass Politiker wirtschaftliches Wachstum heute als einzige Möglichkeit auffassen, dem Problem der Massenarbeitslosigkeit zu begegnen. Diese These möchte ich nach und nach konkretisieren. In diesem Beitrag zunächst einige begriffsgeschichtliche Überlegungen die zeigen, wie Arbeit seit Adam Smith einen Begriff darstellt, der eng mit linearem Fortschritts- und Wachstumsglauben verbunden ist. Dabei orientiere ich mich stark an der Begriffsgeschichte von Werner Conze (1972), die Andrea Komlosy kürzlich als „eurozentristische Meistererzählung“ bezeichnet hat, der niemand entkommen könne, der zu Arbeit forsche (Komlosy 2014: 12).

Der Arbeitsbegriff vor der Aufklärung

In dem Weltbild dieser Zeit war für linearen Fortschritts- und Wachstumsglauben wenig Platz. Das gilt daher auch für den Begriff der Arbeit, und das liegt nicht an der Arbeitsverachtung der griechischen Antike, die — mehr oder weniger stark — bis in die Moderne immer wieder durchscheint und in grundsätzlicher Spannung zum christlichen Arbeitsbegriff steht. Denn bereits im frühen Christentum bekommt Arbeit eine positive Konnotation als „Dienst an Gott“. Mit dem Fluch Gottes und der Austreibung aus dem Paradies wird Arbeit zwar zur Mühsal da der Acker verflucht wurde („So soll nun der Acker verflucht sein um deinetwillen; unter Mühsal sollst du dich von ihm nähren“ (1. Buch Mose, 3, 17–19, zitiert nach Conze 1972)), aber gleichzeitig ruht der Segen auf der unter Entbehrungen verrichteten Arbeit: Arbeit ist Erfüllung, bringt Ehre und innere Würde — wenn sie im Gebet verrichtet wird. Dies ist die gemeinsame Grundlage des christlichen Arbeitsbegriffes, der ansonsten durchaus variierte.

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